Der Protektor (German Edition)
anderes. Ich bitte Doktor Falk, mir einen Ort zu zeigen, wo ich in Ruhe die Laborjournale von Doktor Bresson durchsehen und, falls erforderlich, mit ein paar ihrer Kollegen reden kann. Sie bietet mir sofort ihr Arbeitszimmer an, das mir aber ungeeignet erscheint.
„Irgendwo, meinetwegen eng, aber für mich“, wende ich ein.
„Haben Sie nicht so etwas?“
Sie überlegt, dann hebt sie die Brauen: „Ach ja, die Rotonde.“
„Was für eine Rotonde?“
Der Name des berühmten runden Cafés, wo sich in den zwanziger Jahren die Pariser Behème getroffen hat, sagt mir hier nichts, aber in Paris schon.
„Kommen Sie, Sie werden sehen!“, schlägt Doktor Falk vor.
Sie führt mich zum Ende des Korridors, nimmt einen Schlüssel aus der Kitteltasche und schließt eine Tür auf.
Ein kleines, rundes Zimmerchen. Genauer gesagt, nicht rund, sondern sechseckig. An drei Wänden Fenster, an den übrigen alte, verglaste Bibliotheksschränke voller dicker Folianten. Die Fenster reichen bis zum Boden, davor ein Tischchen mit zwei von diesen alten, breiten Stühlen mit Armlehnen. Eine ziemlich mitgenommene Bücherleiter und Packen verstaubter Zeitschriften vollenden die Einrichtung.
Ideal. Das ist genau das, was ich brauche.
„Es ist nicht gerade…“, setzt Doktor Falk an.
Sie meint das alte Büchermagazin passt nicht zu meiner Firma. Aber ich bin da anderer Ansicht. Ich bitte sie nur, durch jemanden mir die Laborjournale Doktor Bressons schicken zu lassen. Welche genau? Alle, wenn möglich. Und mir einen Schlüssel zu geben, was sie sofort tut.
„Die Laborjournale schicke ich Ihnen durch Tyra“, erklärt Doktor Hanna Falk. Dann schaut sie auf die Uhr. „Nun… es ist schon ziemlich spät. Wenn Sie zu Mittag essen wollen, lassen Sie es mich wissen. Ich nehme Sie mit in unseren Klub.“
Sie geht, und ich sehe mich in meiner Höhle um. Wer diesen Lagerraum Rotonde genannt hat, hatte Sinn für Humor, denn mit dem Pariser Café de la Rotonde hat es nun wirklich nichts gemein. Das ist genau einer dieser architektonischen absurden Räume, wie ich sie auch anderswo schon gesehen habe.
Es klopft an der Tür. Das ist wahrscheinlich die Laborantin Tyra.
Sie ist es: klein, schmächtig und sehr lieb, mit großen, runden, braunen Augen. Wohl noch keine zwanzig und so dünn, dass ihr der Kittel ein bisschen zu weit ist. Unter dem Arm trägt sie zwei große, gebundene Laborjournale.
„Ich bin Tyra“, sagt sie. „Nicht wahr, Sie sind…“
Und sie bricht in Tränen aus.
Sie weint so ehrlich wie ein Kind, dass mir auch die Trauer in die Kehle steigt. Ich versuche etwas zu sagen, etwas Tröstendes, aber es kommt so banal heraus, dass ich es gleich wieder sein lasse. Es führt auch zu nichts; es gibt keinen Trost. Ein Mensch ist dahingegangen, und nichts kann ihn zurückbringen.
„Tyra“, sage ich leise, „ich habe Doktor Bresson ebenfalls gekannt.“
Aus den großen, braunen Augen tropfen still Tränen, doch allmählich beruhigt sie sich.
„Ich weiß, dass Sie Kummer haben“, beginne ich, „aber seinetwegen bitte ich Sie sehr, dass Sie sich an ein paar Dinge erinnern. Woran haben Sie am letzten Tag genau gearbeitet?
Erzählen Sie mir das, vom Morgen an, der Reihe nach.“
„Vom Morgen an…“ Sie wischt sich die Augen. „Ja, also… Ich kam, ging zu ihm hinein, um ihn zu fragen…, Gleich, Tyra, will das hier nur fertigmachen!’ Er schrieb etwas. Ich nahm die Gestelle heraus und die Petrischalen, baute sie auf…“ Danach folgt das Bild eines Alltags in einem gewöhnlichen immunologischen Labor. Doch ich möchte noch einmal auf eine kleine Einzelheit zurückkommen.
„Was hat er geschrieben, Tyra? Einen Bericht? Oder eine wissenschaftliche Mitteilung?“
„Nnnein …“ Sie zögert. „Mir scheint, das war es nicht. Es war etwas anderes.“
„Wieso sind Sie da so sicher?“
„Ja, also“ – sie wischt sich wieder die Augen – „bei Berichten packte er sich ganze Zeitschriftenstapel hin, für Mitteilungen hat er die Laborjournale verlangt. Das habe ich gesehen.“
Das wundert mich nicht. Laborantinnen wie sie haben ein unfehlbares Einfühlungsvermögen. Sie verstehen eine Andeutung, eine ungeduldige Geste.
Sie erzählt, wie sie die Versuche durchgesehen haben. Der Doktor habe diktiert, sie habe die Eintragungen ins Laborjournal gemacht. Als sie fertig waren, habe sie ihm einen Kaffee gekocht, er habe ihr Arbeit für den Tag zugeteilt und sich wieder zum Schreiben hingesetzt.
„Die Laborjournale
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