Der Protektor (German Edition)
Merkwürdig, Yanis Tod beginnt gleichsam in meinem Bewusstsein zu verblassen, er bleibt irgendwo im Hintergrund, und alle Anstrengungen konzentrieren sich auf etwas anderes.
Was hat Yanis Bresson gewusst?
Indem ich Fingerabdrücke sammle oder Schreibtische durchwühle, werde ich es nie erfahren. Ich muss mich an Bressons Stelle versetzen, den Verlauf der Versuche verfolgen, die unerwarteten Gedankenblitze, die Verzweiflung der Ideen. Zweifelhaft bleibt, inwieweit ich überhaupt dazu imstande bin. Meine Kenntnisse in dieser dynamischen Wissenschaft reichen nicht aus. Aber ich habe auch einen Vorteil: Ich weiß, was die Wirtschaftsspionage in der Medizin augenblicklich sucht. Ich weiß, wofür gezahlt wird, was in den Panzerschränken verschwindet, wofür nötigenfalls Menschen beseitigt werden.
Ich stehe auf, packe meine veralteten daktyloskopischen Gerätschaften ein und schließe das Labor ab.
Die nächsten beiden Stunden verbringe ich in der „Rotunde“ mit den Laborjournalen. Nur, wer schon mal in solchen Allerweltslaborweisheiten geblättert hat, weiß, was das für eine Sisyphusarbeit ist. Ich sehe Serien mit Nummern von Meerschweinchen und Kaninchen durch, mit Plus- und Minuszeichen, mit Ziffern, die Zellen nach Art und Zahl bezeichnen. Gleichzeitig vergleiche ich die Versuche mit dem, was Bresson schon veröffentlicht oder berichtet hat, mit den Schlussfolgerungen und möglichen Verzweigungen der Arbeit.
Im Großen und Ganzen ist ein Teufel nicht so schwarz, wie ich befürchtet habe. Die Methodik entspricht bekanntem Schema und ist auch mir mit meinen Möglichkeiten begreiflich. Die Versuche sind verständlich, wenigstens soweit, dass ich nicht die Hilfe von Doktor Falk oder Tyra in Anspruch nehmen muss. Und ich habe – wenn man das so bezeichnen kann! – Glück. Die Protokolle von Tyra leserlich und vermitteln das Bild von den Tagen, an denen die Versuche angesetzt und ausgewertet wurden. Hinterher hat dann Bresson mit den Aufzeichnungen nicht viele Umstände gemacht und mit seiner ungleichmäßigen Handschrift Ergänzungen und Bemerkungen nachgetragen. Die Ergänzungen sind für mich wichtig, an ihnen kann ich seine Gedanken nachvollziehen.
Seine Experimente verfolgen zwei Richtungen, die eine davon unsere ganze Gruppe. Seine wissenschaftliche Formulierung ist reichlich verwickelt, aber es geht um den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Abwehrreaktion bei Gewebeverpflanzungen.
Unser Organismus erkennt fremdes Gewebe sehr genau, mobilisiert seine Abwehrkräfte und vernichtet es. Er tut das sogar dann, wenn das eingepflanzte Gewebe für ihn lebenswichtig ist, wie bei Herzverpflanzungen. Es ist absurd und widersinnig, doch bei diesen Reaktionen wirken biologische Gesetze. Deshalb wird der Organismus bei solchen Verpflanzungen bestrahlt, oder es werden starke Medikamente eingesetzt, um die Abwehrreaktion zu unterdrücken.
Das waren die Versuche, die Bresson mit der Radiologie verbanden. Hier sind die Dinge hinreichend klar, die Methodik ist bekannt, und auch die Ergebnisse in den Laborjournalen entsprechen den Auskünften meiner Nachschlagewerke.
Dem zweiten sehr speziellen Thema galt sein persönliches Interesse. Es war Yanis Lieblingsthema – die Suche nach Stoffen, die die Abwehrkräfte des Körpers stimulieren und ihnen im Kampf gegen Krebs helfen. Es gibt eine Menge Stoffe, die die Abwehr bei verschiedenen Erkrankungen unterstützen, aber bei Krebs sind sie leider machtlos.
Und Yanni hat nichts gefunden, das geht aus den Protokollen klar hervor. Hier hat er einfach die Versuche fortgesetzt, die er in Paris begonnen hatte. Er hat einen Stoff nach dem anderen untersucht – Bakterienextrakte, chemische Verbindungen, selbst Auszüge aus Pflanzen und Insekten. Ein paar Dutzend, einzeln oder kombiniert. Nichts. Ergebnisse, die ihm niemand abnehmen würde. Die Versuchstiere sind an Krebs gestorben. Seine Prozentzahlen hätten nur ein nachsichtiges Schulterzucken hervorgerufen. Das hat er genau gewusst, wenn selbst ich es verstehe.
Auf dem Korridor gehen von Zeit zu Zeit Leute vorbei, unten vor dem Fenster sind Stimmen zu hören. Die Sonnenvierecke sind von den Bücherschränken schon zu den Wänden weitergewandert.
Langsam stehe ich auf und gehe hin und her. Ich muss eine kleine Pause einlegen, die Zahlenkolonnen fangen schon an, vor meinen Augen zu tanzen. Auch die verwünschten Kopfschmerzen melden sich wieder.
Was hat Bresson gewusst?
Ich bleibe vor dem Fenster mit den
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