Der Protektor von Calderon
den Ruinen unten hatten sich Menschen versammelt: Legionares , Burschen und Marketenderinnen. Es mussten tausende sein. Manche waren auf die Mauer geklettert oder auf verfallene Hauswände, um einen besseren Blick auf das Geschehen zu haben. Tavi konnte sie in der Dunkelheit gerade noch erkennen - und auf einem der nahen Gebäude entdeckte er weiße Haare, Marat-Mähnen, die im leichten Wind hin und her wehten - Kitai und ihre Leute.
Er nickte ihnen zu, und zur Antwort schlugen mehrere Fäuste
gleichzeitig auf die ledergeschützten Brüste. In der ansonsten stillen Nacht konnte er das Pochen hören. Sie erreichten die Mitte der Mauer gleichzeitig mit Navaris. Tavi blieb weit genug entfernt von ihr stehen, damit er gegebenenfalls einem plötzlichen Angriff ausweichen konnte. Hauptmann Nalus stand zwischen ihnen.
»Phrygiar Navaris«, sagte er. »Bist du bereit?«
Sie ließ Tavi nicht aus den Augen. »Ja.«
»Gaius Octavian«, sagte Nalus. »Bist du bereit?«
»Ja.«
Nalus blickte von einem zum anderen. »Ich rufe euch in Erinnerung, dass ihr ein Duell bis zum Tode austragt. Deshalb frage ich euch beide, ob ihr von dem Duell zurücktreten und so Blutvergießen vermeiden wollt?«
»Ich nicht«, sagte Tavi.
Navaris grinste nur schwach und erwiderte nichts.
Nalus seufzte. »Gaius Octavian, zieh die Klingen.«
Tavi zog sie aus den Scheiden und reichte sie Heft voran Nalus. Der Hauptmann untersuchte sie auf Gift und reichte sie an Tavi zurück, dann schlang er sich die leeren Waffengurte über die Schulter.
»Phrygiar Navaris, zieh die Klingen.«
Er untersuchte auch ihre Waffen und nahm ihre Waffengurte.
»In Ordnung«, sagte er. »Keiner von euch beiden darf sich bewegen, bis ich mich von euch entfernt und bis zehn gezählt habe. Bei zehn dürft ihr mit dem Kampf beginnen. Habt ihr verstanden?«
Beide bejahten. Nalus trat zurück und stieg von der Mauer nach unten. Tavi schien es, als würde der Hauptmann eine Ewigkeit dafür brauchen, und währenddessen starrte er unverwandt Navaris an.
»Eins!«, rief Nalus.
»Nervös, Bürschchen?«, fragte Navaris leise.
»Ein bisschen schläfrig«, erwiderte Tavi. »Ein bisschen hungrig. Ich freue mich schon aufs Frühstück und auf ein Nickerchen.«
»Ruhe wirst du bald haben«, meinte Navaris. »Das verspreche ich dir. Aber Hunger nicht.«
»Zwei!«, rief Nalus.
»Ich bin neugierig«, sagte Tavi. »Wie seid ihr von der sinkenden Mactis entkommen?«
»Araris hat seinen Hexer getötet. Du hast deinen nur verwundet. Wir haben ihn in ein Boot gebracht, und er hat uns vor den Leviathanen verborgen.«
»Drei!«, rief Nalus.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem seelenlosen Lächeln. »Es hat drei Tage gedauert, bis er gestorben war. Zeit genug, aus der Hatz zu verschwinden.«
Tavi wurde bei der Beschreibung übel. Drei Tage … Das war kein schöner Tod. Obwohl das vermutlich auf die meisten Todesarten zutraf.
»Ich habe mich schon auf diesen Kampf gefreut«, sagte Navaris.
»Vier!«
»Und weswegen?«, fragte Tavi.
»Weil du nur der Köder bist, Bürschchen.« Sie wandte den Blick kurz von ihm ab und schaute die Mauer hinunter. »Wenn du tot bist, wird sich Valerian auf mich stürzen.« Sie schauderte wohlig. »Und das wird ein richtiger Kampf werden.«
»Fünf!«
»Zuerst musst du mit mir fertig werden«, sagte Tavi.
Navaris neigte den Kopf und sah ihn wieder an.
»Sechs!«
»Ich bin neugierig«, sagte sie. »Bist du wirklich Princeps Octavian?«
Tavi schenkte ihr das gleiche Lächeln wie sie gerade ihm. »Das werden wir ja in Kürze wissen.«
»Sieben!«, rief Nalus.
Navaris atmete schneller. Er beobachtete, wie sich ihre Augen weit öffneten, und mehrmals ging ein Zittern durch ihren Körper, das sich bis in die Klingen fortsetzte.
Sein Mund wurde trocken, aber er dachte an das, was Araris ihm gesagt hatte. Geduld. Beherrschung. Er sah die Stecherin an und berührte die Klinge sanft mit seinen Elementarkräften, was seine Aufmerksamkeit schärfte und ihn beruhigte.
»Acht!«
Navaris öffnete die Lippen, und ihr Körper verdrehte sich eigenartig, als wollte er selbstständig in den Kampf fliegen, ohne die Beine mitzunehmen.
»Neun!«
Tavi holte tief Luft.
Kitais Stimme hallte klar und deutlich durch die Stille zwischen den Zahlen herüber, so laut, dass sie jeder Zuschauer, Mann, Frau und Kind, hören musste. »Schaff sie zu den Krähen, Aleraner!«
»Zehn!«
Die Erste Aleranische sprach mit einer einzigen, ohrenbetäubenden Stimme, und der
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