Der Protektor von Calderon
Wald. Dichter Wald. Manche der Bäume waren uralte Riesen, deren Stämme dicker waren als Amara hoch. Andere waren kleiner und strebten im Schatten der gewaltigen Nachbarn nach Raum und Sonne. Überall wuchsen dichte Büsche, überwiegend Farne mit weichen Wedeln. Hängendes
Moos überzog alles und fiel bis auf wenige Fuß über dem Waldboden herab. Einen Ort wie diesen hatte sie nie zuvor gesehen, und trotzdem kam er ihr irgendwie sehr vertraut vor.
Vögel sangen, doch kannte sie ihre Melodien nicht. Still lag sie einen Augenblick lang da und sog die Einzelheiten in sich auf. Insekten summten hier und da. In einem nahen Baum bemerkte sie eine Bewegung und sah einen Schemen vorbeihuschen, ohne Zweifel ein wilder Waldelementar, der sofort wieder zwischen den Ästen verschwand.
Sie drückte sich hoch. Gaius saß auf einem Stein neben dem Feuer. Er hatte die gewohnte rot-blaue Seide gegen Tunika und Hose eines Waldläufers getauscht und schien sich darin überraschend wohlzufühlen. Mit einem Becher in der Hand saß er da, hatte die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken gelegt.
»Guten Morgen, Gräfin«, murmelte er.
»Majestät«, sagte sie, »ich muss mich für gestern Abend entschuldigen. Ich hätte dir nicht einfach so zur Last fallen sollen.«
»Im Gegenteil«, meinte Gaius. »Es war das erste Mal, dass jemand so gut mit mir mitgehalten hat, seit ich und Septimus nach …« Er unterbrach sich, schlug blinzelnd die Augen auf und starrte hinauf zum Himmel. »Ich hatte eigentlich erwartet, dass ich dich die letzten Stunden tragen müsste.«
»Immerhin musstest du mir helfen«, sagte Amara.
Er zuckte mit einer Schulter. »Ich habe nur mir selbst geholfen, Gräfin. Du bist nahe genug an mir drangeblieben, um in den Genuss der Vorteile zu gelangen. Wir haben es viel schneller geschafft, als ich zu hoffen gewagt hatte.«
Sie stand auf und reckte sich. »Wo sind wir?«
»Im westlichen Teil der Weinenden Berge.«
Amara runzelte die Stirn. »Das … Das ist auf Kalares Gebiet, oder?«
»An dessen Rand, ja«, bestätigte Gaius. »Allerdings leben hier wenig Menschen, und das Land zwischen unserem Standort und dem Meer ist reine Wildnis. Ich bezweifle sogar, dass es hier außer
uns im Umkreis von vierzig oder fünfzig Meilen irgendwelche Seelen gibt. Wir befinden uns dreihundert Meilen südwestlich der eigentlichen Stadt Kalare. Tee?«
»Gern.« Amara nahm den Becher entgegen, den er aus einem Zinntopf füllte, welcher neben dem Feuer hing. Die Wärme fühlte sich gut an in den kalten Fingern, und sie nippte behutsam an dem Tee. »Dreihundert Meilen.«
»Richtig. Und leider werden wir von jetzt an zu Fuß gehen.«
Amara zog unwillkürlich die Augenbrauen hoch. »Majestät?«
»Das ist die einzige Möglichkeit.« Gaius deutete neben sich. »Setz dich zu mir ans Feuer. Ich werde es dir erklären.«
Amara ließ sich am Feuer nieder und sah sich das Lager an. Sie entdeckte eine kleine, aber vollständige Soldatenausrüstung für das Feld - Schlafdecken, Kochgeschirr, einige Werkzeuge und sogar ein Notzelt. Gaius musste vorausgeplant haben.
»Wir gehen nach Kalare«, sagte Gaius.
»Majestät?« Stirnrunzelnd betrachtete Amara ihren Tee. »Ich verstehe nicht. Die Legionen sind doch dorthin unterwegs.«
Gaius schüttelte den Kopf. »Sie führen Krieg, um dorthin zu gelangen. Das ist nicht das Gleiche. Ich brauche nicht um die Gebiete zu kämpfen. Ich muss einfach nur nach Kalare.«
»Warum fliegen wir nicht hin?«
»Kalarus war klug. Er muss diese Sache schon ausgeheckt haben, als er den Titel geerbt hat. Sein Netz von Wachelementaren ist so ausgedehnt, dass es an Wahnsinn grenzt.«
Amara zog die Augenbrauen hoch. »Wachelementar … Ich verstehe nicht.«
»Elementare, die nur die Aufgabe haben, auf einen bestimmen Menschen zu reagieren. In diesem Falle auf mich. Wenn ich mich durch die Luft Kalare annähere, erfährt er davon, sobald ich weniger als dreihundert Meilen entfernt bin.«
»Kannst du sie nicht beseitigen?«
»Gewiss«, antwortete Gaius. »Doch ihr plötzliches Schweigen
wäre eine ebenso gute Warnung für ihn, als wenn ich lauthals meine Anwesenheit ausrufen würde. Es muss unglaublich anstrengend sein, ein solches Netz aufrechtzuerhalten. Vermutlich spiegelt sich seine Persönlichkeit darin. Von Angst besessen, verflucht und von Angst besessen. Äußerst gefährlich.«
Amara nickte. »Dann verstehe ich nicht, was wir hier tun.«
»Kalares Maßnahmen haben einen schwachen Punkt«, sagte
Weitere Kostenlose Bücher