Der Protektor von Calderon
Menschen, die Arnos ermorden lassen wollte, würde nicht das Einzige sein, das an seinen Händen klebte. Für die gesamte Gegend würde sich die Tat verheerend auswirken. Krankheiten würden sich ausbreiten. Kinder wurden zu Waisen. Wehrhöfe würden geschwächt und die Ernten schlechter ausfallen, weil es an Arbeitskräften mangelte. Die Lebensmittelknappheit trieb immer mehr Menschen zu Raub und Mord. Andere würden aus Rache töten, und wie in allen Kriegen würden Frauen und Kinder am schlimmsten leiden. Die Elementare in der Umgebung würden durch den Tod derjenigen, die sie führten, aus dem Gleichgewicht geraten und verwildern, was weitere Probleme mit sich brachte und jeden gefährdete, der ihren Weg kreuzte.
Tavi hatte das schon in anderen Städten und Dörfern gesehen, über die der Krieg grausam hinweggerollt war. Es war ein Albtraum. Wenn Arnos diesen Weg fortsetzte, würde der erste Schnee des Winters auf ein Land des Todes und der Verwesung fallen, über das fette, krächzende Krähen herrschten.
Wie konnte sich ein Mann so etwas nur ausdenken?
Tavi blinzelte. Die Antwort war wohl viel einfacher.
Er wusste es nicht besser.
Arnos hatte einfach keinerlei Vorstellung davon.
Obwohl Arnos eines der angesehensten Mitglieder der Collegia Tactica war, hatte er tatsächlich niemals an einem Feldzug teilgenommen. Den Angriff vom heutigen Morgen hatte er aus
seiner Windkutsche von hoch oben verfolgt und auf winzige Figuren herabgeschaut, die weit unter ihm herumliefen - von einem Blickwinkel, aus dem man ein Ludus-Brett oder einen Sandtisch betrachtete.
Er war zu weit entfernt gewesen, um Blut zu sehen, die Schreie zu hören oder den Gestank des Todes zu riechen. Verfluchte Krähen, der Mann führte Legionen gegen einen unnachgiebigen Feind in die Schlacht und trug nicht einmal eine Rüstung. Tavi war sich sehr bewusst, wie rasch die Gezeiten des Kriegs wechselten - seine verbeulte Rüstung war Beweis genug dafür.
Für Arnos war das alles kein Bestandteil seiner Wirklichkeit, dachte Tavi. Oder vielmehr waren die Wirklichkeit und das, was im Kopf des Senators vorging, zwei gänzlich verschiedene Dinge. Er war daran gewöhnt, über den Krieg in wirklichkeitsfernen, angenehm nichtssagenden Begriffen zu reden. Er war nicht auf dem Schlachtfeld gewesen, und obwohl er durchaus mit dem Verstand einschätzen konnte, was der Verlust von Menschenleben bedeutete, fehlte ihm die Erfahrung am eigenen Leib.
Tavi schüttelte den Kopf. »Ich nehme es zurück«, sagte er leise. »Du könntest selbst dann nichts Gutes tun, wenn du wolltest.«
Arnos winkte Navaris mit dem Finger zu sich. »Ich bin sicher, dieses Haus hat einen Keller oder einen Lagerraum, der abschließbar ist. Sperr ihn dort ein.«
»Arnos, bitte«, sagte Tavi. »Nimm den Befehl zurück. Diese Menschen haben den Tod nicht verdient, und das weißt du auch.«
Aber Arnos beachtete ihn nicht. »Danach nimmst du diesen Kerl hier und bringst ihn zu den Gefangenen. Offensichtlich hat er mit den hiesigen Rebellen zusammengearbeitet.«
Tavi knirschte niedergeschlagen mit den Zähnen und ballte die Hände zu Fäusten.
Navaris starrte ihn aus ihren Schlangenaugen an, und ihr Schwert glitt einige Zoll weit aus der Scheide.
In dem Moment hörte Tavi das Geräusch, ehe es jemand anderem aufzufallen schien. In den Jahren, seit dieser seltsame Bund
zwischen ihm und Kitai entstanden war, hatten seine Sinne sich stetig entwickelt. Sie waren nicht unbedingt stärker geworden, sondern hatten sogar in gewisser Weise an Deutlichkeit verloren. Aber Gerüche wurden eindringlicher und vertrauter, und er konnte sie besser erkennen, bis sich in seiner Erinnerung Orte und Gegenstände klarer unterschieden, so wie man durch Gesichter die Menschen voneinander unterscheidet. Bei den Geräuschen hatte sich auch etwas verändert. Er nahm sie nicht lauter wahr, eher deutlicher, und häufig konnte er genau feststellen, wer sich um ihn herum bewegte und auf welchen Tieren sie ritten, und das alles anhand der einzigartigen Geräusche ihres Atems.
Dies war ein sehr leises Geräusch, eines, das die meisten Menschen nicht bemerkten, bevor es nicht sehr viel lauter wurde.
Pferde. Hunderte, die im Galopp heranstürmten.
Bei den Krähen. Das konnte Tavi jetzt gar nicht gebrauchen.
Navaris packte seinen Arm mit der Linken, und erst jetzt bemerkte sie das Geräusch. Sie erstarrte und wandte den Kopf dem Nordtor zu. Man hörte ein Krachen und dann das tiefe Grollen von Hufschlag, der in ein
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