Der Puls von Jandur
überhaupt lesen und schreiben? Oder war das nur den Adeligen vorbehalten? In Shinjossa hatte er Schreibutensilien gesehen.
Hlanda saß auf einem Hocker und rührte in einer großen Schüssel Brei an, auf einem Teller hatte sie Obst in mundgerechte Stücke geschnitten. Lith stellte ihn auf den Tisch, tauchte einen Krug in einen Wassereimer und bat Matteo, vier Becher zu holen.
»Lith«, mahnte ihre Mutter, »lass ihn doch hier nicht arbeiten.«
»Mach ich doch gern«, sagte Matteo. »Schüsseln?«
Lith nickte und griff ihrerseits nach den Löffeln. Gemeinsam deckten sie den Tisch.
»Ich habe euch einen Proviantsack hergerichtet.« Hlanda wies auf einen länglichen Beutel mit einem breiten Lederriemen. »Wasser und Essen. Damit ihr versorgt seid.«
Sie bemühte sich um einen lockeren Tonfall, doch Matteo spürte ihre Anspannung.
»Danke«, murmelte Lith und schob Matteo auf die Sitzbank.
Ihre Mutter füllte die Schalen mit Brei und reichte sie weiter. »Esst. Es gibt reichlich.«
Der Brei schmeckte nach Getreide, ein wenig nussig, fast wie Haferflocken. Er war warm und zusammen mit dem Obst konnte man sich vorstellen, aufgeweichtes Müsli zu essen. Matteo hasste Müsli. Der Papp wurde mit jedem Löffel zäher und quoll im Mund zur doppelten Menge auf. Tapfer würgte er ihn hinunter, nahm einen Schluck Wasser und stopfte eine Frucht nach, immer abwechselnd, bis die Schüssel leer war. Lith bedachte ihn mit einem Schmunzeln, als wüsste sie, was in ihm vorging. Sie selbst aß langsam und schweigend, auch Hlanda trug nichts zu einer Unterhaltung bei.
Ansho erschien im Höhleneingang, begrüßte sie mit einem dröhnenden »Guten Morgen« und setzte sich an den Tisch. Schweigsam und mit verkniffener Miene löffelte er seinen Brei. Ansho wirkte nicht weniger besorgt als Hlanda. Oder vielleicht schmeckte ihm auch nur das Essen nicht. Das war zumindest das, was Matteo sich einzureden versuchte. Alles andere schürte nur sein Unbehagen.
Lith neben ihm hatte den Löffel weggelegt und die Schüssel von sich geschoben. Sie bearbeitete ihre Unterlippe mit den Zähnen und war damit höchst erfolgreich. Hautfetzen und blutige Stellen zierten ihren Mund.
Bestens, sie ist nervös , dachte Matteo. Das wird ein interessanter Tag .
»Cisko hat die Schlangenläufer aufgespürt«, sagte Ansho, als alle ihre Mahlzeit beendet hatten. »Er erwartet euch.«
»Gut, danke.« Lith bedeutete Matteo aufzustehen und sie rutschten von der Bank. »Dann werden wir uns auf den Weg machen.«
Aus Hlandas Augen sprach nun unverhohlene Angst. »Lith, pass auf dich auf. Was immer du vorhast, bitte, bitte sei vorsichtig. Wir wollen dich nicht auch noch verlieren.«
Auch noch? Matteos Blick jagte von einem zum anderen. Hatte er etwas verpasst? Und täuschte er sich oder hatte Lith ihre Eltern gar nicht näher eingeweiht, was ihre Reise zur Kaiserin betraf?
»Jaja«, sagte Lith. »Macht euch keine Sorgen.«
»Doch, tun wir«, gab Ansho zurück. Er und Hlanda hatten sich ebenfalls erhoben. »Und jetzt mehr denn je. Hoffentlich weißt du, worauf du dich einlässt.«
»Ich denke schon.«
Lith umarmte ihre Mutter, dann ihren Vater. Matteo wollte ihnen nacheinander zum Abschied die Hand reichen, landete aber schnell an Hlandas Brust.
Sie schlang die Arme um ihn. »Mein Junge, ich weiß nicht, was ich dir mit auf den Weg geben soll. Für Jandur magst du der Erlöser sein, der Lichtpuls, der diesem Land den Frieden schenken könnte. In Wahrheit aber zählt nur, was du selbst willst. Wie du dich auch entscheidest, vergiss eines nie: Du bist stark. Weit stärker, als du ahnst.«
Er murmelte ein »Mhm«, ordnete ihre Worte in die Rubrik Ungelöste Fragen ein und ließ sich von Ansho auf die Schulter klopfen. »Alles Gute für dich, Matteo. Ich freue mich auf ein Wiedersehen. Irgendwann.«
Ein mulmiges Gefühl stieg in Matteo auf. Er hatte nicht vor, jemals wieder zu den Squirre zurückzukehren. So nett er sie auch fand, sie waren nicht seine Familie. Noch vor einigen Tagen hätte er sich das nie träumen lassen, aber er vermisste Andrea und Brizio ganz schrecklich.
Lith hängte sich den Proviantbeutel quer über den Rücken und hob die Hand zum Gruß. »Macht’s gut.«
Damit wollte sie gehen, doch Hlanda hielt sie auf: »Lith, du meldest dich doch, wenn du etwas von Veloy hörst?«
Matteo sah Lith zusammenzucken. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Die Luft schien um einige Grade abzukühlen.
»Lith?«, hakte Ansho nach.
»Natürlich«,
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