Der Puppen-Galgen
Kein Scheinwerfer war eingeschaltet. Nur das Licht aus dem Zuschauerraum floß herüber.
Auf der Bühne stand ein Galgen!
***
Melle Fenton rührte sich nicht. Sie hielt sogar den Atem an. Sie tat überrascht, obwohl das nicht hätte sein müssen.
Die Frau wartete noch einige Sekunden ab, damit sich ihre Augen besser an die Umgebung gewöhnten.
Es war kein normaler Galgen, sondern ein außergewöhnlicher. Er sah aus wie eine Reckstange, an der mehrere Schlingen herabhingen.
Perfekte Henkerschlingen, die den Verurteilten über die Köpfe gestreift wurden. Für menschliche Köpfe allerdings schienen die Schlingen zu klein zu ein. Besser geeignet waren sie da schon für Puppen.
Melle nickte vor sich hin. Sie trat langsam weg von ihrem seitlichen Bühnenplatz und tauchte ein in den faden grauen Schein des Lichts und in den zitternden Staub, das dieses Licht sichtbar machte.
Vor dem Galgen blieb sie stehen. Sie konnten ihn jetzt besser sehen und zählte Schlingen.
Sechs waren es insgesamt!
Aber nur eine Schlinge war belegt. Darin hing eine Puppe.
Die Frau erschrak, als sie die Puppe anschaute. Es war ihr, als hätte man sie mit kaltem Wasser übergössen, und sie schloß die Augen, weil sie es einfach nicht wahrhaben wollte. Aber sie spürte auch, daß das Schicksal eine Kurve beschrieben hatte, so daß sie bald einen anderen Weg einschlagen würde.
Als sie die Augen wieder öffnete, war die Puppe noch immer da.
Trotzdem hatte sich etwas verändert, denn sie schwankte leicht hin und her, als hätte sie aus der Finsternis hinter ihr einen leichten Stoß bekommen.
Ruhig! Du mußt dich beruhigen! Schärfte sich die Frau selbst ein. Um Himmels willen, reiß dich nur zusammen! Mach dich nicht selbst verrückt. Du hast bisher alles überstanden, und den Rest packst du auch noch. Es ist schon alles okay.
So sprach die eine Hälfte in ihr.
Aber es gab noch eine andere.
Die sagte ihr, daß nichts okay war, und das hing genau mit der Puppe zusammen – der Lieblingspuppe.
Sie trug ein weißes Kleidchen mit zahlreichen Rüschen und Spitze besetzt. Ihr Gesicht war so lieblich rund. Pausbacken. Runde, nette Augen. Eine kleine Nase. Der wunderbare Kirschmund. Die angewinkelten Arme mit den feinen, zartgliedrigen Händen. Das dichte dunkle Haar auf dem Kopf. Daß alles paßte, das bin ich, dachte Melle.
Ja, sie war die Puppe.
Das Ebenbild!
Sie hing in der Schlinge!
Melle Fenton stöhnte auf.
Der Kopf war zur rechten Seite hin weggeknickt, als hätte das harte Material der Schlinge den Hals aufgescheuert. Doch das sah nur so aus.
Das Genick der Puppe war gebrochen. Später war dann wohl die Wunde entstanden und Blut hervorgesickert.
Es hatte sich um den Hals herum und auch auf dem Strick verteilt.
Melle Fenton zitterte, je länger sie die Puppe anschaute. Sie spürte die Furcht wie flüssiges Blei durch ihre Adern rinnen. Es fiel ihr schwer, normal Luft zu holen, und sie hatte dabei den Eindruck, als würde der Tod mit seinen Knochenfingern gegen den Rand ihrer Seele pochen.
Der Galgen hatte sein Opfer gefunden. Und nicht nur einfach ein normales Opfer, sondern ein ganz bestimmtes.
Ihre Puppe!
Sie selbst!
Ihr Ebenbild!
Eine scheußliche Warnung, die Melle Fenton sehr wohl begriffen hatte.
Sie würde sich entsprechend verhalten müssen. Ihre Zukunft sah so aus, daß sie…
Nein, keine Gedanken mehr! Jemand hatte gegen ihren Kopf geschlagen. Der unsichtbare Druck war da, und ihre Sinne zeigten sich plötzlich noch angespannter.
Sie nahm den Geruch deutlich wahr. Er wehte ihr entgegen.
Aus der Finsternis hervor. Ein Pesthauch, gefüllt mit dem Gestank des alten Bluts.
Die Erinnerungen waren da. Bilder entstanden vor ihren Augen. Jemand hatte den Sargdeckel entfernt, in dem sie gelegen hatte. Eine finstere Gestalt, die so schrecklich stank.
Nach altem Blut…
Ihr Retter!
Dennoch zitterte die Frau, als sie der Geruch abermals traf. Sie hatte das Gefühl, für die Rettung bezahlen zu müssen. In den folgenden Minuten. Ihr Schicksal würde einen Knick bekommen und sie…
Schritte!
Schleichend. Auf der Bühne.
Da kam jemand aus dem Hintergrund der Bühne hervor. Noch war er nicht zu sehen, dafür zu riechen, denn dieser alte und dumpfe Blutgeruch umgab ihn und kam näher.
Der Schatten malte sich ab.
Dunkler als das Grau der Bühne. Schwarz. Pechschwarz mit einem bleichen Gesicht, aber keiner Knochenfratze, denn hier kam nicht das Sinnbild des Todes.
Hier kam jemand, auf dessen Stirn plötzlich das
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