Der Puppen-Galgen
verschwunden war.
Mit einer ruckartigen Bewegung setzte sie sich hin.
Geöffnete Augen. Ein bleiches Gesicht, das im künstlichen Licht wie Teig schimmerte.
Allmählich öffnete sie auch den Mund. Die Lippen sprangen nicht schnell auseinander, es waren die langsamen Bewegungen einer Person, die sich noch nicht an ihre neue Existenz gewöhnt hatte.
Die Arme hielt sie seitlich ausgestreckt, und die Handflächen glitten dabei über den dünnen Stoff. Sie hörte das schabende Geräusch, aber Irielle wollte es aus ihrer Erinnerung verdrängen, weil andere Dinge wichtiger geworden waren.
Wenn sie überhaupt noch Gefühle entwickeln konnte, dann waren es die der Gier und des Hungers.
Auf einmal waren sie da.
Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Aus ihrem offenen Mund drang ein wütendes Fauchen. Dabei warf sie den Kopf in den Nacken, ließ den Mund aber offen, in dessen oberem Bereich sich etwas verändert hatte.
Aus dem Kiefer wuchsen die beiden typischen Merkmale hervor, zwei spitze Zähne. Blutzähne! Auch Waffen!
Im noch immer offenstehenden Mund begann die Zunge mit ihrem Tanz, dann schob sie sich nach vorn, vorbei an den Spitzen der beiden Bluthauer.
Da wußte sie Bescheid. Die eine Berührung hatte ausgereicht, und ihre innere Stimme erklärte ihr, zu wem sie geworden war.
Zu Mallmanns Braut. Zu einer Vampirin. Zu einem Geschöpf, das Blut saugen wollte.
Blut!
Zuerst tauchte dieses Wort nur in ihren Gedanken auf. Das blieb nicht so, denn plötzlich sprach sie es aus. Sie stieß es zwischen den Zähnen hervor. Erst leise und zischend, danach immer lauter, und zuletzt schrie sie es hinaus.
Das eine für sie so wichtige Wort hallte über die Bühne und hinein in den Zuschauerraum, wo es an den Wänden entlangstrich und schließlich verklang.
Irielle riß die Arme in die Höhe und ballte dabei die Hände zu Fäusten.
Es war ein Ausdruck ihrer neuen Kraft und ihres neuen Lebens, das sie von nun an nicht mehr im Stich lassen würde. Sie kam damit zurecht, sie schrie, sie freute sich. Mit einer fast wütenden Bewegung warf sie sich herum auf die rechte Seite, wobei sie mit den Fäusten auf den Boden trommelte.
Dann stand sie auf.
Die Bewegung war ein wenig zu schnell erfolgt. Die Untote rutschte über den glatten Bühnenboden, behielt nur mühsam das Gleichgewicht, und ein schneller Schritt brachte sie wieder in eine normale Lage. Sie hatte die Schlingen dabei übersehen und kam zu nahe an sie heran, so daß die Stricke gegen ihr Gesicht klatschten und sie unwillig aufschrie. Dann duckte sie sich an den pendelnden Schlingen vorbei, beugte den Oberkörper vor, drückte ihn wieder zurück, schwang im selben Rhythmus die Arme, um immer wieder dasselbe Wort zu schreien.
»Blut! Blut…!«
Melle war wie von Sinnen. Sie roch es. Sie wollte es, sie drehte sich, die Augen suchten.
»Ich rieche es doch. Es ist in der Nähe. Blut ist da.« Ihr Kopf schnellte vor. Das puppenhafte Gesicht der Frau hatte sich verändert. Es war zu einer gierigen und bösen Maske geworden, und die Zunge schlug immer wieder wie eine Peitsche aus dem Mund.
Mit der rechten Schulter prallte sie gegen die in der Schlinge hängenden Puppe. Die bewegte sich, schlug zurück, und der Geruch des Blutes nahm plötzlich die Form des Wahnsinns an.
Mit beiden Händen hielt Melle Fenton die Puppe fest!
Blut – dort klebte Blut!
Ein schon gieriges und auch häßlich klingendes Lachen drang aus ihrem Mund. Dann riß sie die Puppe vor ihr Gesicht, in Höhe des Mundes, und wieder schlug die Zunge dabei aus dem Mund wie ein aalförmiger Fisch.
Melle schleckte das alte Blut, und sie stöhnte dabei auf, aber ihre Gier wurde kaum gestillt, denn diese Nahrung war nicht mit frischer zu vergleichen.
Trotzdem war sie wie von Sinnen. Für sie war es die einzige Möglichkeit, ihre Gier zu stillen, auch zu lernen und sich an das Blut zu gewöhnen.
Mit beiden Händen umklammerte sie die in der Schlinge hängende Puppe. Das Gesicht mit dem offenen Mund tanzte um die Puppe herum.
Sie hatte die Welt völlig vergessen. Was sie umgab, interessierte sie nicht mehr. Sie bewegte sich nur um ihr puppenartiges Ebenbild herum, hörte sich keuchen und auf den Bühnenboden trampeln, wo jeder Schritt ein dumpfes Echo hinterließ.
Kein Blut mehr. Kein einziger Tropfen, der sich auf ihre Zunge gelegt hätte. Nur noch den Stoff spürte sie zwischen Zähnen und Lippen. So ließ sie die Puppe los.
Sie versetzte ihr danach einen Stoß, und das in der Schlinge hängende
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