Der Puppendoktor
.«
Kurz, ein ganz normaler Typ. Ganz normal. Jean-Jean warf den Bericht in eine Schublade. Das Bild des verstümmelten Kopfs tauchte vor seinen Augen auf.
Momo wartete vor dem Kinderfreizeit-Zentrum. Natürlich war seine Mutter mal wieder zu spät. Nachmittags half sie in der Drogerie aus, und dort wurde sie immer aufgehalten. Alle anderen Kinder waren gegangen. Normalerweise hätte er im Hof warten müssen. Aber ausgerechnet heute musste Karine, die Erzieherin, pünktlich weg. Sie hatte ihn beiseite genommen:
»Hör zu, Momo. Es ist fast Viertel vor sieben Uhr, ich muss gehen. Ich habe einen Termin beim Zahnarzt und muss mir einen Zahn ziehen lassen, verstehst du? Du bleibst im Hof und wartest auf deine Mama. Wenn du etwas willst, klingelst du bei Monsieur Porieux, ja?«
Monsieur Porieux war der Hausmeister, ein großer alter Mann, der immer im Unterhemd herumlief und schimpfte. Den würde Momo bestimmt nichts fragen. Karine hatte Monsieur Porieux Bescheid gegeben:
»Monsieur Porieux, ich muss gehen. Sehen Sie von Zeit zu Zeit mal nach dem Jungen, seine Mutter ist noch nicht da, danke.«
»Bei der Sozialhilfe kommt sie bestimmt nicht zu spät! Spricht er wenigstens Französisch?«
Karine hatte gequält gelächelt und war in ihren Strandjeep, Spezialserie »Mer du Sud«, gestiegen. (Er war mit Palmenaufklebern dekoriert). Der Hausmeister hatte seine vor Dreck schwarze Fenstertür geschlossen, um sich seine bevorzugte Vorabendserie anzusehen: »Amours et Pause-Cafe«, ein brasilianischer Monumentalfilm, Lifeaufnahmen in einem Fünfzehn-Quadratmeter-Zimmer.
Momo hatte erst ein bisschen am Springbrunnen gespielt, und als er völlig durchnässt war, war ihm das langweilig geworden. Er hatte seine Murmeln herausgeholt. Verflixt, jetzt war eine auf das Nachbargrundstück gerollt! Er war über den Zaun geklettert und hatte sich auf den umgegrabenen Boden fallen lassen, der als Rasen eingesät werden sollte. Hier war es schon lustiger als drinnen. Aber die Zeit wurde ihm doch lang! Wo blieb seine Mutter bloß?
Plötzlich sah er ihn. Den Mann. Er saß in seinem Lieferwagen. Ein alter, hässlicher, grauer Wagen. Er lächelte Momo durch das geöffnete Fenster zu. Er machte ihm ein Zeichen, näher zu kommen. Momo zuckte die Schultern. Es war verboten, mit Männern zu sprechen, deren Namen man nicht kannte, denn oft wollten sie Dinge mit einem anstellen, Dinge, die wehtaten. Der Mann stieg aus. Noch immer lächelnd, kam er auf ihn zu. Er hatte große, glänzende, gelbe Zähne.
Und spitz dazu.
Momo musste an das Märchen denken, das ihnen die Erzieherin erzählt hatte, das Märchen von dem kleinen Mädchen, das zu seiner »Großmutter« ging, auf einen als Oma verkleideten Wolf traf und es nicht einmal merkte, obwohl er eine so komische Stimme, komische Augen und so große Zähne hatte. War das Rotkäppchen blöd!
Der Mann mit den Augen, die funkelten wie Murmeln, und den spitzen Zähnen beugte sich zu ihm herab.
Ohne weiter nachzudenken, schlug ihm Momo den Rucksack auf die Nase und rannte weg, so schnell er konnte. Er hörte ihn hinterherlaufen, und sein Instinkt sagte ihm, dass das kein Spiel war. O nein!
Das Freizeitzentrum war neu und noch nicht ganz fertig gestellt. Rund um das Hauptgebäude war noch alles Baustelle. Um diese Zeit menschenleer. Momo rannte durch den Bauschutt, ohne sich umzudrehen.
19.15 Uhr. Marcel sah verstohlen auf seine Uhr. Noch eine Stunde, und er wäre zu Hause.
Hoffentlich würde Madeleine bald ihre Sozialwohnung bekommen und mit den Kindern dort einziehen. Paulo winkte ihm von weitem zu, zog den eisernen Rollladen der Werkstatt herunter und ging, gefolgt von Ben. Jean-Mi servierte schäumendes Bier und unterhielt sich mit der neuen Bedienung. Es war die Ruhe vor dem nächtlichen Sturm. Der klapperdürre Riese, der für gewöhnlich Rasierklingen verschluckte und Feuer spuckte, saß ruhig an einem der kleinen runden Tische und trank seine giftgrüne Pfefferminzlimonade. In der Ferne ein Hupkonzert. Marcel träumte vor sich hin.
Plötzlich zupfte ihn jemand am Ärmel. Entnervt drehte er sich um. Nadja sah ihn an, verzweifelt, außer Atem. Sie biss sich auf die Lippe, war offenbar kurz davor, in Tränen auszubrechen. Verblüfft beugte er sich zu ihr vor. Wie klein sie war!
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Mein Sohn, er ist verschwunden, ich kann ihn nicht finden!« »Wo sollte er denn sein?«
»Im Freizeitzentrum der Schule. Ich bin zu spät gekommen, und er war nicht da, er ist auch
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