Der Puppengräber
zu tragen oder sich anzuhören, ihr Schwiegervater habe ja erst begonnen, gegen die Nazis zu protestieren, als ihn das Tausendjährige Reich seine jüngste Tochter kostete. Bis dahin habe der alte von Burg ebenso begeistert «Heil, mein Führer» gebrüllt wie alle anderen. Es war im Jahr vor ihrem Tod kein Auskommen mehr gewesen mit Gerta Franken. Auch Hilde Petzhold hatte oft gesagt, Gerta führe sich auf wie eine Giftspritze.
Trude hatte nicht daran gedacht, die Alte zu versorgen. Sie hatte sich auf die barmherzigen Schwestern des Klosters verlassen, die auch Essen auf Rädern ausfuhren. Aber anscheinend nicht zu Gerta Franken, obwohl Erich Jensen gesagt hatte, er wolle das in die Wege leiten. Wahrscheinlich hatte Erich es vergessen zwischen all den Sitzungen im Stadtrat, den Parteitagen und seiner Arbeit in der Apotheke.
Im Dorf wurde gemunkelt, Gerta Franken sei verhungert. Der Arzt diagnostizierte Altersschwäche als Todesursache und hielt es für überflüssig, eine Kopfwunde im Totenschein zu erwähnen. Der Leichenbestatter kam auch nicht auf den Gedanken, der Wunde eine besondere Bedeutung beizumessen. Kein Mensch vergoss eine Träne. Angehörige gab es nicht. Das halbe Dorf war erleichtert, ein großes Ärgernis unter die Erde bringen zu dürfen.
Die andere Hälfte – im Neubaugebiet am Lerchenweg – interessierte sich nur für ihre persönlichen Belange und ihre unmittelbare Nachbarschaft, in der auch nicht alles war, wie es sein sollte. Es gab in Toni von Burgs Mietshaus immer noch die Familie Mohn mit Tochter Ursula, die für ausreichend Gesprächsstoff sorgte.
Trude hatte schon häufig davon gehört. Ursula Mohn war etwas älter als Ben und für ihr Alter viel zu starkentwickelt. Die Leute erzählten, sie kenne absolut kein Schamgefühl, ziehe mitten auf der Straße den Pullover aus, um vorbeikommende Passanten auf die knospenden Brüste aufmerksam zu machen. Sie belästigte die Männer im Treppenhaus, wenn sie von der Arbeit kamen, und die Frauen im Trockenraum für die Wäsche, wenn sie ihre Dessous auf die Leine hängten. Da war man am Lerchenweg nicht angewiesen auf Gerta Franken, die den Pfarrer am Altar beschimpft und versucht hatte, alle Welt vor Ben zu warnen.
Die Stadtverwaltung sorgte für ein Begräbnis, kassierte in Aufrechnung der mit den Jahren gezahlten Sozialhilfe das Grundstück mitsamt der wurmstichigen Kate und dem verwilderten Garten. Nur zwei Tage nachdem sie die alte Frau unter die Erde gebracht hatten, rückte der Bagger an. Abends lag nur noch ein Haufen Schutt an der Stelle, von der aus man den verwilderten Garten, den Feldweg, Trudes Gemüsebeete und die Apfelwiese so gut beobachten konnte. Schon am nächsten Tag war auch der Schutthaufen verschwunden. Ohne Jakob um Erlaubnis zu fragen, wurde damit der letzte Sandpütz aufgefüllt. Da schlug man zwei Fliegen mit einer Klappe.
Sie hatten es wirklich verdammt eilig. Jahrelang war ihnen Gerta Frankens Haus ein Dorn im Auge gewesen. Jetzt wurde das Grundstück in zwei Hälften geteilt. Beide wurden als Baugrund deklariert und versprachen einen ansehnlichen Batzen für die Stadtkasse. Der an der Bachstraße liegende Teil wurde sofort verkauft an einen vom Stadtrat, der etwas schneller war als Heinz Lukka, vielleicht auch etwas betuchter. Er ließ sich eine kleine Villa mit Schwimmbecken im Garten errichten und schirmte sich mit einer mannshohen Mauer gegen den rückwärtigen Urwald und neugierige Blicke ab.
Für den hinteren Teil mit Zufahrt über den Feldweg,in dessen Mitte der alte Birnbaum und die Viehtränke standen, fand sich kein Interessent. Möglicherweise schreckte die Wildnis viele ab. Hätte die Stadtverwaltung auch diesen Teil einebnen lassen, wäre es vermutlich rasch zu einem Verkauf gekommen. Doch daran dachte niemand. Das Grundstück wurde lediglich erschlossen, was bedeutete, es wurde mit einem Anschluss an die Kanalisation und einer Wasserleitung ausgestattet. Damit ein Bauwilliger sofort anfangen konnte, legte man ein Stück dieser Leitung über die Erde, versah es mit einem Wasserhahn und vergaß es.
Man hatte bei der Stadtverwaltung noch andere Sorgen. Jakob Schlösser! Er war der Letzte. Richard Kreßmann lebte mit seiner Familie seit Jahr und Tag mitten im eigenen Land. Bruno Kleu hatte sich aus eigenem Antrieb entschlossen, es Richard gleichzutun. Es gab im freien Feld keine Nachbarschaft, die argwöhnisch beobachtete, wann Bruno abends das Haus verließ und wann er es nachts wieder betrat.
Paul
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