Der Puppengräber
einschüchtern wie Trude, die häufig den Vorschlag machte, sich die Sache doch einmal zu überlegen. Trudes Bitten wurden mit der Zeit immer nachdrücklicher, wobei sie nur knapp die Hälfte von dem sagte, was sie Jakob eigentlich hätte sagen müssen.
Zwar hockte Ben die meiste Zeit im Birnbaum oder spielte an der Viehtränke, aber wenn Trude ihn nicht alle Viertelstunde kontrollierte und ein Eis oder sonst eine Leckerei hinausbrachte, war er weg.
Es stimmte, was die Leute erzählten: Er lief den Mädchen durchs halbe Dorf nach und brüllte, so laut er konnte, «Rabenaas» hinter ihnen her. Das war schon unangenehm, aber noch relativ harmlos. Kritisch wurde es immer, wenn er ein Messer fand. Er fand auch dann noch eins, wenn Trude meinte, alle weggeschlossen zu haben. Dann fuchtelte er den Kindern damit vor den Augen herum und schrie: «Finger weg! Kalt!» Da hieß es dann regelmäßig, er sei gemeingefährlich. Jedes Mal redete Trude sich nach solchen Vorfällen die Lippen wund. Dass er es nicht so meine. Dass er die Kinder nur warnen wolle, ein Messer in die Hand zu nehmen, weil er sich selbst schon verschiedentlich geschnitten habe.
Inzwischen log sie für ihn mit einer Überzeugungskraft, die sie manchmal selbst überzeugte. Aber was wollte man tun, wenn er in die Jahre kam? Man konnte ihn doch nicht kastrieren lassen wie einen Kater. Da wäre es besser, man würde außerhalb des Dorfes mit ihm leben.
An einem Abend im Spätsommer 84 versuchte Trude wieder einmal, Jakob zu überzeugen. Sie war an dem Tag für ein Stündchen bei ihrer jüngsten Tochter und Antoniaauf dem neuen Lässler-Hof gewesen. Zusammen mit Ben, den sie nicht mehr ohne Aufsicht ließ, aber das erwähnte sie nicht. Sie sprach von anderen Dingen.
Ein prachtvolles Haus hatten Paul und Antonia sich bauen lassen, alles so hell, so groß und modern. Und rundherum keine Menschenseele, die sich über irgendetwas aufregte. Während Trude in Antonias Wohnzimmer einen Kaffee trank, spielten die Kinder auf dem Hof. Andreas und Achim rasten auf ihren neuen Fahrrädern durch die Pfützen der letzten Regennacht und brüllten vor Vergnügen, wenn der Dreck nach allen Seiten spritzte. Annette spielte mit ihrer Freundin neben der Garage Misswahl. Ein Transistorradio auf volle Lautstärke gedreht, kleine Stoffläppchen vor Bauch und Brust und sonst nur nackte Haut.
Die beiden Nesthäkchen Britta und Tanja planschten in einem randvollen, aufblasbaren Becken auf der Terrasse, trugen hin und wieder gefüllte Eimerchen über den Hof und kippten sie in schon vorhandene Pfützen, jauchzten und krähten mit den Jungs um die Wette. Kurz und gut, es war ein Höllenlärm, und niemand beschwerte sich.
In der ganzen langen Rede, in der sie die Vorzüge eines frei liegenden Hofes schilderte, erwähnte Trude nicht einmal den Namen Ben. Er war zwischen den Mädchen bei der Garage und den beiden Kleinen beim Planschbecken hin- und hergerannt, hatte aus Leibeskräften «Rabenaas» und «Fein» gebrüllt und mit den Armen durch die Luft gepflügt.
Trude sagte nur, dass Antonia ihre Söhne und Annette bei schlechtem Wetter mit dem Wagen zur Schule fuhr und auch wieder abholte. Dass die Kinder den Schulweg ansonsten auf ihren Fahrrädern zurücklegen mussten. Und Ben konnte nicht Rad fahren.
26. AUGUST 1995
Gegen halb sechs kamen sie auf den Hof zurück. Jakobs Magen knurrte vernehmlich, Trude stellte sich endlich an den Herd. Kaum hatte sie eine Pfanne genommen und ein paar Eier hineingeschlagen, setzte Ben sich an den Tisch. Auch Jakob blieb in der Küche, wollte die Gelegenheit nutzen, in Ruhe mit ihr über alles zu reden. Vor allem über das, was ihm während des nutzlosen Spaziergangs durch den Kopf gegangen war. Ob man vielleicht einmal mit der Polizei sprechen und Ben von einem Fachmann befragen lassen sollte. Doch egal, was er sagte, er bekam keine Antwort von ihr, nur wunde Blicke, die Bände sprachen.
Jakob war völlig sicher, dass sie ihm etwas Gravierendes verschwieg. Er fühlte ein Zittern im Innern, wie einen straff gespannten Draht zwischen Herz und Magen. Die Bilder im Hirn, Paradepuppen und junge Frauen, ein Fernglas und ein Klappspaten, der Fetzen im Einweckglas und die bunte Jacke! Aber zumindest das musste sich klären lassen, und zwar bevor Trude den letzten Rest ihrer Kraft einbüßte. Und ehe er sich weiter den Kopf zerbrach, wollte er in Erfahrung bringen, ob Edith Stern bei Heinz Lukka angekommen, wie lange sie geblieben war und wohin sie
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