Der Puppengräber
unentwegt die Arme schwingen, als wolle er jemanden zu einem Boxkampf auffordern, brabbelte fein macht und Finger weg. Er schaffte es zu Mittag sogar, seinen Teller zu leeren, fast ohne Trudes Hilfe und die übliche Hampelei auf dem Stuhl. Danach blieb er bei ihr in der Küche.
Um halb drei zog Trude ihm die gute Hose und ein sauberes Hemd an, nahm ihn bei der Hand. Auf dem Weg zum Marktplatz erzählte sie ihm, was er zu sehenbekäme, um seine Erinnerung aufzufrischen und vielleicht ein bisschen Vorfreude zu wecken. Doch die Vorstellung fiel aus.
Schon als sie sich dem Platz näherten, bemerkte Trude die Unruhe. Statt der Ponys stand ein Streifenwagen neben dem Zelt. Rundherum verteilten sich etliche Grüppchen, die teils lebhaft diskutierten, teils mit neugierigen Mienen zu einem der Wohnwagen starrten, wo der Zirkusdirektor heftig auf zwei Polizisten einsprach.
Bei einem der Grüppchen standen Thea Kreßmann und Renate Kleu mit ihren Kindern. Albert zeigte seine Zahnlücken, als Trude und Ben näher kamen. Renate wiegte den Kinderwagen mit ihrem jüngsten Sohn Heiko und hielt ihren Ältesten mit eisernem Griff am Handgelenk. Dieter riss und zerrte mit der freien Hand am Arm seiner Mutter. Er wollte unbedingt zum Zelt und trat, als er nicht beachtet wurde, den feixenden Albert vors Schienbein. Albert begann zu heulen. Dieter bekam eine Ohrfeige, begann zu toben und trat gegen den Kinderwagen. Der kleine Heiko im Wagen brüllte vor Schreck ebenfalls los, und Renate wusste nicht, wen sie zuerst beruhigen sollte. Andere hatten es auch nicht leicht.
Renate verabschiedete sich eilig mit hochrotem Kopf. Und Thea erzählte, den Zirkusleuten sei in der Nacht die Kunstreiterin durchgebrannt. Thea berichtete weiter, sie habe zufällig gehört, wie der Zirkusdirektor den Polizisten die Situation erklärte und gegen die Ansicht der Beamten protestierte. Von Durchbrennen könne keine Rede sein. Seine Tochter sei absolut zuverlässig. Sie habe am späten Abend nur noch einmal nach einem der Ponys auf der Gemeindewiese sehen wollen, weil das Tier bei der letzten Vorstellung gelahmt hatte. Und wer durchbrenne, nehme einen Koffer mit.
Von Renate Kleu war bereits nichts mehr zu sehen,aber Thea schaute immer noch in die Richtung, in die sie gegangen war. «Sie kann einem wirklich leidtun», sagte Thea. «Stell dir vor, Bruno ist erst um drei in der Nacht nach Hause gekommen, hat sie mir gerade erzählt. Gestern Abend hat Maria Jensen ihn gesehen, hier auf dem Platz. Maria sagte, er unterhielt sich mit dem Zirkusmädchen. Das hat Renate wirklich nicht verdient.»
Thea schüttelte betrübt den Kopf und erzählte noch, dass Heinz Lukka um halb elf in der Nacht, als er die letzte Runde mit seinem Schäferhund drehte, ein Auto gesehen habe, gar nicht weit von der Gemeindewiese weg. Dass es sich dabei um Brunos Auto gehandelt hatte, wollte Heinz Lukka nicht beschwören. Es sei ein Mercedes gewesen, aber davon gab es einige im Ort, er selbst fuhr auch einen. Das Kennzeichen habe er nicht sehen können in der Dunkelheit. Der Fahrer habe Gas gegeben, aber nicht das Licht eingeschaltet, als Heinz Lukka mit seinem Hund näher kam.
«Was meinst du?», fragte Thea. «Ob ich mit den Polizisten reden und ihnen sagen soll, was Maria und Heinz gesehen haben? Ich meine, sagen müsste man es ihnen.»
«Warum überlässt du das nicht Heinz und Maria?», fragte Trude. «Du hast doch nichts gesehen.»
21. AUGUST 1995
Nach dem Sonntag hinter verschlossener Tür und dem Spaziergang mit seinem Vater verbrachte Ben einige Stunden in seinem Zimmer. Jakob verschloss die Tür im Glauben, dass er begriffen habe, warum es sein musste. Bis um zwei Uhr in der Nacht hörte Jakob sich Trudes gepressten Atem und das Brüllen von gegenüber an.
Ben brüllte nicht nur, er wimmerte, winselte, jaulte wie ein Hund, riss und rüttelte an der Klinke, trat mit den Füßen gegen die Tür, schlug mit den Fäusten dagegen, dass Jakob dachte, lange könne das Holz nicht mehr standhalten.
Ein paarmal brüllte Jakob zurück: «Wenn du jetzt nicht Ruhe gibst, komm ich rüber. Dann setzt es was.» Dann war es nebenan für einige Minuten still, und dann ging das Gebrüll wieder los.
Um zwei Uhr sagte Trude: «Das halte ich nicht aus. Wenn du ihn nicht rauslässt, tu ich es. Jetzt mach schon, wer soll ihn sehen? Es ist doch keiner mehr draußen um die Zeit.»
Sie irrte sich. Bruno Kleu war noch unterwegs. Er war nach dem Schlag ins Gesicht seiner Frau vom Café Rüttgers
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