Der Puppengräber
zu Ruhpolds Schenke gegangen und dort geblieben, bis die Kneipe um eins in der Nacht geschlossen wurde. Danach gab es zwei Möglichkeiten für ihn, heimgehen, sich zu Renate ins Bett legen und sich eventuell ihre Frage nach dem bewussten Samstagabend noch einmal anhören, oder heimgehen, sein Auto holen und nach Lohberg fahren. Aber dort hatten die Kneipen auch nicht länger geöffnet, und er hatte eine Menge getrunken. Zu viel, um sich noch hinters Steuer zu setzen.
Bruno Kleu war nicht Richard Kreßmann, der seinen Wagen noch mit zwei Komma acht Promille fuhr und jedem mit einer Verleumdungsklage drohte, der auch nur andeutete, er könnte in solch einem Zustand Toni und Illa von Burgs kleine Tochter überfahren haben. Bruno war nur wütend und – aber das hätte er niemals zugegeben – ängstlich.
Auch für einen Mann, der normalerweise mit den Fäusten argumentierte, gab es Situationen, in denen er sich fürchtete. Man konnte der eigenen Frau das Maulstopfen mit einem Schlag, aber man konnte nicht alle zusammenschlagen, die Fragen stellten. Und jetzt richteten sich die Blicke nicht nur auf ihn, ein paar schauten auf seinen Sohn.
Bruno hatte vor fünfzehn Jahren erlebt, wie es war, wenn ein Mädchen verschwand und das Gerede begann. Er wusste auch, dass ihn damals nur eins vor dem Gefängnis bewahrt hatte, die Tatsache nämlich, dass es keine Leiche gab. Vor acht Jahren hatte er dieses Glück noch einmal gehabt. Nur war es in beiden Fällen um Mädchen gegangen, über deren Schicksal sich niemand im Dorf sonderlich aufregte. Jetzt sah das anders aus. «Dreimal ist göttlich», hatte seine Mutter früher häufig gesagt. Mit Gott hatten diese Dinge aber nichts zu tun.
Hätte Jakob geahnt, dass Bruno seit einer Stunde über Feldwege lief, am Bendchen vorbei, auf den Bruch zu, den Kopf voll Alkohol und düsterer Erinnerungen, Jakob hätte Trude kaum nachgegeben. Aber so fand er nach ein paar Minuten, im Grunde habe sie recht und ein bisschen Schlaf brauche man schließlich.
Er stand auf, holte sich zuerst ein Glas Wasser, dann drehte er den Schlüssel in der Tür. Danach war es ein paar Sekunden lang still. Jakob stand auf dem Flur und rührte sich nicht, schaute nur die Klinke an, die langsam nach unten gedrückt wurde. Die Tür ging einen Spalt auf. Mit eingezogenem Kopf und misstrauisch ängstlichem Blick stand Ben vor ihm. Das Fernglas baumelte bereits vor seiner Brust.
«Was soll das?», fragte Jakob streng. «Warum gibst du keine Ruhe? Wir waren uns doch einig, dass du im Haus bleiben musst. Was willst du da draußen? Da gibt es jetzt nichts zu sehen.»
Unter dem schroffen Ton duckte Ben sich und murmelte: «Freund.»
Jakob winkte ab, ärgerlich und unzufrieden mit sich selbst. Einen Moment stand Ben noch unschlüssig da, schien im Zweifel, ob er es wagen durfte, sich an seinem Vater vorbei zur Treppe zu drücken. Als Jakob sich dem Schlafzimmer zuwandte, war Ben mit drei Sätzen am Treppenabsatz.
Er lief in den Keller, befestigte den Klappspaten am Taillenriemen, schlüpfte in die Gummistiefel und war draußen, noch ehe sein Vater sich von einer Seite auf die andere gewälzt hatte. Er nahm nicht den Weg zur ersten Abzweigung, hetzte querfeldein zum breiten Weg, rannte weiter zwischen Feldern und Gärten, vorbei am Stacheldraht, Gerta Frankens ehemaligem Garten und tauchte in den Mais. Lukkas Bungalow lag in völliger Dunkelheit. Von dort aus lief er weiter am Lässler-Hof vorbei zum Bruch.
Bruno Kleu saß am Rand der Senke, verborgen von hohem Unkraut. Er sah ihn kommen und verschwinden – ein massiger, unverwechselbarer Schatten in der Nacht.
Das Gelände fiel stark ab. Der alte Bombenkrater hatte einen Durchmesser von etwa zweihundert Metern. Im Zentrum war er von mehreren Hügeln durchsetzt. Fünfzig Jahre alte Trümmer, die Reste des ehemaligen Kreßmann-Hofs. Wohnhaus, Gesindehaus, Scheunen, Stallungen, die Zeit hatte sämtliche Ecken und Kanten geschliffen und mit Moos und wildem Efeu überwuchert.
Und all die Nesseln, all die Disteln zwischen den Ruinen, all das, was Ben hegte und pflegte, lag platt getreten am Boden. Polizei und freiwillige Feuerwehr hatten keine Rücksicht auf das Unkraut genommen. Bruno Kleu beobachtete ihn, sah ihn gebückt mit den Händen am Boden hantieren. Ben bemühte sich, die umgeknickten Pflanzen wieder aufzurichten. Aber sie waren schon zu verdorrt, um stehen zu bleiben.
Schließlich wandte er sich einem der Hügel zu. Es waren die Überreste des Wohnhauses,
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