Der Puppengräber
Sandpütz, als suche er den Tod inder Tiefe. Er lief zur Gemeindewiese, manchmal auch ins Dorf. Meist führte ihn sein Weg nach einem Streifzug durch ein paar Straßen in die Backstube des Café Rüttgers, wo er streichelnde Hände zu finden hoffte, wo Sibylle Faßbender ihn mit Torte fütterte, anschließend zum Telefonhörer griff, darum bat, es möge jemand kommen, um ihn abzuholen, gleichzeitig Stein und Bein schwor, dass er niemanden belästigt habe.
Das war peinlich, aber nicht weiter tragisch. Trude verging nur regelmäßig vor Sorge, dass er wieder ein Messer bei sich trug, dass er es jemandem zeigte, in seiner Unbeholfenheit sich oder andere verletzte und allein dafür hinter Schloss und Riegel wanderte. Oder, der Himmel möge es verhüten, dass er sich statt an einer Puppe an einem kleinen Kind vergriff.
Irgendwann fand er auf seinen Streifzügen heraus, wo Heinz Lukka wohnte. Einmal saß er den halben Vormittag auf der Bordsteinkante vor der Apotheke, bis ihn eine barmherzige Seele auflas und heimbrachte. Diese barmherzige Seele war ausgerechnet Maria Jensen, die es natürlich Erich erzählte, der es wiederum im Stadtrat zur Debatte stellte.
An einem Abend im Oktober kamen sie dann zu zweit, Erich Jensen und Heinz Lukka. Erich gab sich freundlich und besorgt, ließ jedoch deutlich durchblicken, wie er sich die Fortsetzung des Dramas dachte. Wenn Trude mit der Beaufsichtigung ihres Sohnes überfordert war, musste man nach einer geeigneten Möglichkeit zur sicheren Unterbringung suchen.
«Ich bin nicht überfordert», erklärte Trude, «wirklich nicht. Was ist denn dabei, wenn er durchs Dorf läuft? Das machen andere auch. Thea hat letzte Woche bis in den späten Abend nach Albert gesucht. Da kommt der Lümmel einfach aus der Schule nicht heim, setzt sich inden Bus und fährt nach Lohberg. So etwas käme Ben nicht in den Sinn.»
«Das kannst du nicht vergleichen, Trude», meinte Heinz Lukka. «Wenn Albert Kreßmann durch die Straßen läuft oder sich in den Bus setzt, weiß er, was er tut. Ben weiß es nicht. Und als Albert von der Streife heimgebracht wurde, ist Richard nicht auf ihn losgegangen wie ein Tier. Richard war nur froh, dass dem Jungen nichts zugestoßen war.»
Heinz Lukkas Blick ging kurz zu Jakob, suchte wieder Trudes Augen. «Trude», sagte er sehr ernst. «Ich weiß, dass du es gut meinst mit Ben und es nach Möglichkeit vermeidest, ihn zu bestrafen. Aber ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Jakob über ihn herfiel. Und so geht das nicht. Das ist Misshandlung, das können wir nicht zulassen. Ich hätte das Jugendamt einschalten müssen. Ich habe es nicht getan, weil … Nun ja, ein Heim ist auch nicht die beste Lösung. Aber vielleicht eine bessere, als ihn hierzulassen.»
«Tu mir das nicht an, Heinz», bettelte Trude. «Und tu es Ben nicht an. Wenn du ihn einsperren willst, kannst du ihn auch gleich totschlagen. Er braucht das, ein bisschen Laufen und so. Er tut doch keinem etwas.»
«Trude», wurde Heinz Lukka energischer, wobei er den Blick wieder auf Jakob richtete, der vor Wut mit den Zähnen knirschte. «Es geht nicht darum, dass Ben anderen etwas tut. Es geht darum, dass ihm keiner etwas tut. Vielleicht sprichst du mal in Ruhe mit deinem Mann, wenn du Ben gerne bei dir behalten möchtest. Ein Heim ist teuer. Ich sage es, wie es ist. Allein könnt ihr dafür nicht aufkommen. Aber bevor ein Kind zum Krüppel geschlagen wird, das ohnehin schon stark benachteiligt ist, da schaue ich nicht tatenlos zu.»
«Ich auch nicht», sagte Erich Jensen.
Dann erhoben sich beide und gingen zur Tür. Den Weg hinaus fanden sie allein. Als die Tür hinter ihnen zufiel, sagte Trude: «Heinz hat recht. Wenn du ihn nochmal schlägst, nur weil er etwas tut, wofür er nichts kann, dann gehe ich mit ihm weg.»
Jakob stieß die Luft aus. «Das brauchst du nicht», sagte er und stemmte sich von der Couch. «Und wenn du nochmal ein Problem hast, du weißt ja jetzt, wo du dir einen Rat holen kannst. Geh einfach zu Heinz. Ich bin sicher, der falsche Hund steht dir jederzeit gerne zur Seite. Ich frag mich nur, warum er es tut.»
Dass Jakob Heinz Lukka nicht mochte, war bis dahin für Trude nie so offensichtlich gewesen. Die Erklärung, die sie verlangte, wurde ihr verweigert. Jakob ging zu Ruhpolds Schenke und betrank sich.
Tagelang sprach er kein Wort mit ihr. Und Trude sprach wie mit Engelszungen auf ihren Sohn ein. «Nicht ins Dorf, Ben. Geh in den Garten, geh auf die Gemeindewiese. Aber nicht
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