Der Puppengräber
zwischen den Fingern gedreht, ihn sich genau von allen Seiten angeschaut hatte, ließ er ihn wieder fallen. Dann hob er den Kopf. Und obwohl er noch so weit weg war, sah er sie am Fenster stehen, warfbeide Arme in die Luft, hüpfte auf der Stelle, fiel anschließend in einen gelinden Trab und näherte sich rasch.
Ehe er durch den Keller hereinkam, hatte Trude den Tisch gedeckt. Sie wusch ihm die Hände und das Gesicht. Während sie ihm ein paar Brotscheiben bestrich, fingerte er mit gewichtiger Miene in seinen Hosentaschen, legte die Köpfe von drei Gänseblümchen auf den Tisch, grinste sie an und nickte auffordernd.
«Sind die für mich?», fragte Trude. Er nickte wieder.
«Fein», sagte Trude. «Da freu ich mich aber sehr.»
Er biss von seinem Brot ab und griff erneut in die Hosentasche. Diesmal legte er ein paar winzige Dinge auf den Tisch, die Trude erst bei näherem Hinsehen als Schädel und Rippen einer Feldmaus erkannte. «Sind die auch für mich?», fragte sie.
Er schüttelte den Kopf, suchte weiter in der Tasche und brachte noch einen hübsch gemaserten Stein zum Vorschein. Er legte ihn zu den Gänseblümchen, sammelte die Knöchelchen wieder ein und steckte sie zurück in seine Hose.
Nach dem Frühstück verschwand er in seinem Zimmer. Trude hörte ihn eine Weile hin und her laufen, vermutlich suchte er nach einem sicheren Platz für die Überreste der Feldmaus. Aus dem Vorratskeller fehlte wieder ein leeres Einweckglas.
Kurz nach zehn Uhr klingelte das Telefon. Es war Bärbel. Seit vier Jahren war sie mit Uwe von Burg verheiratet und nun auch endlich schwanger. Bärbel hatte Angst, das wusste Trude. Sie ließ alle möglichen Tests machen, um sicherzustellen, dass sie ein gesundes Kind in die Welt setzte. Aber jetzt wollte sie nur rasch erzählen, dass Anita am Sonntag zu Besuch komme.
Anita lebte seit Jahren in Köln. Sie hatte ihren Doktor in Jura gemacht, arbeitete in der juristischen Abteilungeiner großen Versicherung und trug den Kopf noch höher als in jungen Jahren. Nur selten erinnerte sie sich daran, dass sie eine Familie hatte. Wenn sie sich erinnerte, besuchte sie höchstens ihre Schwester und den Schwager auf einen Kaffee am Sonntagnachmittag. Das Stückchen Torte ohne Sahne, auch wenn Bärbel den Tortenboden mit Stachelbeeren belegt hatte. Wegen der Figur. Und wegen der Figur keine Kinder, mit Angst vor Vererbung hatte das angeblich nichts zu tun.
«Wenn du Lust hast», sagte Bärbel, «kannst du ja auch mal vorbeikommen. Oder Papa.» Von Ben sprachen sie nicht.
Nachdem sie aufgelegt hatte, ging Trude hinauf und stand eine Weile in der Tür seines Zimmers. Er lag auf dem Bett und schlief. Seine Stoffpuppe hielt er im Arm wie ein Kind. Zerrissen hatte er schon lange keine mehr. Und wie Trude ihn so sah, zusammengerollt wie einen zufriedenen Hund im Korb, rückte alles weit weg.
Eine Viertelstunde stand sie still auf einem Fleck und schaute ihm beim Schlafen zu. Und in dieser Viertelstunde war der große Teil in ihr, der aus Herz und Mutterliebe bestand, überzeugter als jemals zuvor, dass er niemals die Hand mit einem Messer an einen Menschen legen konnte. Mochten Klaus und Eddi noch hundertmal schwören, sie hätten alle Mädchen aussteigen lassen, Trude hätte ebenfalls jeden Eid auf Bens Unschuld abgelegt.
Als sie sich endlich abwenden wollte, fiel ihr Blick auf das Einweckglas. Es stand hinter der Gardine beim Fenster. Und es war doch etwas mehr drin als die Knöchelchen der Feldmaus. Um ihn nicht zu wecken, schlich sie auf Zehenspitzen hin und nahm das Glas näher in Augenschein. Sie sah drei kleine Kartoffeln mit eingeritzten Mustern in der Schale und zwei Blätter vom GroßenWegerich. Sie waren frisch und gerollt wie Zigarren. Und aus den Enden dieser Zigarren lugte etwas hervor.
Im ersten Moment erinnerte Trude sich zwar, etwas Ähnliches schon einmal gesehen zu haben. Sie konnte es jedoch nicht sofort einordnen. Als es ihr dann einfiel, setzte ihr Herz für ein paar Schläge aus, raste danach los und überschlug sich mehrfach im luftleeren Raum der Erkenntnis.
Sie war ein Kind gewesen, sechs oder sieben Jahre alt, als ihr Vater sich beim Holzhacken einen Finger abschlug. Sie stand neben dem Hauklotz, sah den Finger im hohen Bogen davonfliegen, rannte ihm nach und hob ihn auf. Sah das blutige Ende, den sauber durchtrennten Knochen. Sah es ebenso wie jetzt, nur dass es diesmal zwei blutige Enden, zwei sauber durchtrennte Knochen, zwei Finger waren.
Etwas in ihrem Hirn
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