Der Puppengräber
ihnen drehte sich um. Beide ließen sie ihn das Spiel spielen, das ihm am liebsten war. Fangen. Er erreichte sie, streckte die Hand nach dem außen fahrenden Mädchen aus, wühlte die Finger in ihr dichtes dunkles Haar. Das blonde Mädchen hielt sein Rad an, als seine Begleiterin zum Halten gezwungen wurde. Das dunkelhaarige Mädchen mit der Sonnenbrille war Bens jüngste Schwester.
DAS BAUMHAUS
Im Januar 81 blieb Trudes Regel aus. Einen Anlass zur Besorgnis sah sie anfangs nicht, sie wurde in dem Jahr fünfundvierzig, da musste man mit so etwas rechnen. Außerdem hatte sie in den letzten Monaten des Vorjahres nicht oft mit Jakob geschlafen. Und wo sie ohnehin nicht leicht schwanger wurde, machte sie sich keinen Gedanken zu viel um eine lästige Sache, die einmal nicht zur gewohnten Zeit kam. Gedanken machte sie sich nur um Jakob. Sein Groll gegen Heinz Lukka trieb ihn immer noch häufig in Ruhpolds Schenke.
Jakob weigerte sich strikt, an Lukkas Verlobungsfeier teilzunehmen. Diese Verlobung galt im Dorf als ein Wunder. Heinz Lukka war immerhin schon über fünfzig. Er hatte im Oktober 80 durch seine Arbeit eine Frau kennengelernt, eine nette, solide Person, wie er Trude erzählte, geschieden zwar – er hatte sie bei der Scheidung vertreten –, mit einer zwölfjährigen Tochter, aber wen störte das? Höchstens Thea Kreßmann, die immer der Meinung gewesen war, Heinz Lukka sei besessen von einer siebzehnjährigen Jungfrau Maria.
Im Februar feierte Heinz Lukka sein spätes Glück mit fünfzig geladenen Gästen in einem guten Restaurant in Lohberg. Ruhpolds Schenke, vertraute er Trude an, sei ihm zu bieder und zu bäuerlich. Trude hätte gern mitgefeiert, aber da Jakob nicht wollte, blieb sie auch daheim.
Leider hielt Heinz Lukkas Glück nicht lange. An einem Sonntag Anfang März, nur drei Wochen nach der großen Verlobungsfeier, war die Frau zusammen mit ihrer Tochter auf dem Weg ins Dorf. Auf der Landstraße kam sie mit ihrem Wagen von der Fahrbahn ab. Sie prallte gegen einen Baum und starb in den Trümmern ihres Fahrzeugs, ihre Tochter überlebte schwerverletzt und lag monatelang im Krankenhaus.
Über Wochen hielt sich das Gerücht, Richard Kreßmann habe Lukkas Verlobte von der Straße gedrängt. Richard war zur selben Zeit auf dem Weg nach Lohberg gewesen, um den alten Igor im Krankenhaus zu besuchen. An Igor hing Richard fast mehr als am Alkohol. Nun war Igors Herz zu schwach geworden. Der alte Russe starb zwei Wochen später. Und am selben Abend erhängte sich Werner Ruhpold auf dem Dachboden seiner Schenke.
Trude hörte von dem Unglück auf der Landstraße, dass Richard Kreßmann als Erster an der Unfallstelle gewesen war und dem schwerverletzten Mädchen die Hand gehalten hatte, bis der Rettungswagen eintraf. Ebenso hörte sie, dass Heinz Lukka völlig verzweifelt und Igor friedlich entschlafen war. Sie hörte auch von dem Strick, mit dem Werner Ruhpold sein Warten auf Edith Stern beendet hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte Trude andere Sorgen, als sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum Igor darauf bestanden haben sollte, Werner Ruhpold noch einmal zu sehen, ehe er seinem Schöpfer gegenübertrat. Thea Kreßmann erzählte ihr das und fragtesich, was da so Wichtiges zu besprechen gewesen sein könnte, dass Werner Ruhpold sich entschlossen hatte, Igor auf dem Weg nach oben zu begleiten.
Trude fragte sich ganz etwas anderes. Auch im Februar und im März hatte sich bei ihr nichts gerührt. Als Ende März Antonia Lässler freudestrahlend berichtete, was der Arzt zu ihr gesagt hatte, höchstwahrscheinlich wieder ein Mädchen, keimte in Trude ein furchtbarer Verdacht. Der Gynäkologe bestätigte ihn zwei Wochen später.
Im ersten Augenblick war Trude wie gelähmt und wünschte sich, es möge ihr ergehen, wie es Maria Jensen im November mit der zweiten Schwangerschaft ergangen war. Ein Sturz in der Wohnung, eine heftige Blutung, Notoperation und aus der Traum. Jakob dachte nicht anders. Man musste das Alter berücksichtigen. Er fühlte sich manchmal wie sein eigener Großvater. Trude war auch nicht mehr die Jüngste. Und wenn es nun wieder … Bens Geburtstag lag zwar schon ein paar Wochen zurück, aber er war wie ein Mahnmal.
Sie hatten ihm nichts geschenkt. Es war ihnen nichts eingefallen, womit sie ihm eine Freude hätten machen können.
«Schenkt ihm doch eine Puppe», hatte Anita vorgeschlagen. «Ihr könnt ja ein Messer dazulegen, da freut er sich bestimmt.» Gelacht hatte sie, wie nur
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