Der Puppengräber
kräftig für sein Alter, aber das Gesicht war fein geschnitten. Das dunkle Haar fiel lockig, ließ sich jedoch sauber scheiteln. Und kein Mensch sah, dass darunter nur ein Loch voll krausen Gewimmels war.
Das Kinn war ausnahmsweise trocken, Trude wischte aus alter Gewohnheit trotzdem rasch mit dem Handrücken darüber und aus ebenso alter Gewohnheit mit dem Handrücken an ihrem dunklen Rock entlang. Dann traten sie ein.
Es war dämmrig im Flur des Pfarramts, zwei Reihen zu je vier Stühlen waren an den Wänden aufgestellt, sechs davon besetzt mit anderen Müttern und Kindern, die der Aufforderung des Pfarrers nachkommen wollten. Zwei Stühle waren frei, es kam genau hin. Trude ignorierte die empört aufflammenden Blicke der Mütter, die neugierig gaffenden oder ängstlichen der Kinder und die mit ihrem Eintreten verstummte Unterhaltung. Ben machte mit einem vernehmlichen «Psst» klar, dass er wusste, wie man sich hier zu benehmen hatte. Trude drückte ihn auf einen der freien Stühle, setzte sich daneben, griff nach seiner Hand, damit er sitzen blieb, und wartete.
Innerhalb der nächsten halben Stunde verschwanden die mit ihr Wartenden durch eine der beiden Türen. Kamen sie wieder heraus, erschien gleich darauf der alte Pfarrer oder der junge Gemeindereferent und forderte die nächste Mutter zum Eintreten auf.
Trude geriet an den Gemeindereferenten, der zuerst Ben, dann die Einladung skeptisch betrachtete und denalten Pfarrer zu Hilfe rief. Der kam sofort, bedachte Ben mit einem sanften und wohlwollenden Blick, strich ihm über das sauber gescheitelte Haar und stellte fest: «Du möchtest also auch an der Feier teilnehmen.»
Ben legte einen Finger quer über die Lippen, zischte etwas lauter als auf dem Flur: «Psst.» Und damit war die Sache eigentlich schon erledigt.
Der Pfarrer war durchaus bereit, Ben an den Tisch des Herrn zu bitten, aber nicht ausgerechnet am Weißen Sonntag und nicht zusammen mit Albert Kreßmann und den anderen Kindern. Er setzte sich neben Trude, legte ihr eine Hand auf den Arm und erklärte in etwa dem gleichen Ton, in dem Erich Jensen die Heimeinweisung vorgeschlagen hatte, es sei für Ben wohl das Beste, wenn man ihn an einem der folgenden Sonntage ganz allein zu Tisch bitten würde. Da habe er viel mehr davon. Und es sei nicht so aufregend.
«Nein!», sagte Trude bestimmt. «Entweder am Weißen Sonntag oder gar nicht. Wir haben ihm schon beigebracht, wie er sich benehmen muss. Das Psst gewöhne ich ihm wieder ab. Das war vielleicht ein Fehler, ihm das vorzumachen. Aber das kriegen wir wieder hin. Und er hat so wenig Freude. Was hat er denn von seinem Leben? Einmal soll er mit den anderen in einer Reihe stehen. Wenn’s nicht anders geht, stell ich mich daneben. Aber das wird nicht nötig sein. Lassen Sie ihn mal mit den anderen üben, da werden Sie sehen, dass es klappt. Er macht alles nach, was man ihm vormacht. Er kann die brennende Kerze halten, das habe ich schon mit ihm geübt. Er kann auch still stehen. Wenn er weiß, dass er ein Stück Torte bekommt, gehorcht er aufs Wort.»
«Aber es geht doch nicht um ein Stück Torte.» Der Pfarrer war entrüstet. «Wo kommen wir denn hin, wenn wir den Kindern mit solch weltlichen Vergnügen das Stillstehenvor dem Altar des Herrn abringen müssen? Wo bleibt da das Begreifen vom Sinn der Angelegenheit?»
«Ja, glauben Sie denn», fragte Trude, «dass die anderen den begreifen? Denen geht’s doch nur um die neuen Fahrräder oder was sie sonst wollen.» Darauf bekam sie keine Antwort mehr.
Eine Stunde später saß sie in der Backstube des Cafés. Während Sibylle Faßbender Ben für das ihm entgehende Fest mit Eiscremetorte entschädigte, weinte Trude ihr Elend in sich hinein. Der Kaffee, den Sibylle ihr serviert hatte, stand unberührt auf dem Tisch.
Ben starrte seine Mutter an, war verunsichert und begann zu hampeln. Mit zunehmendem Unbehagen äugte er an Sibylle vorbei, rutschte schließlich vom Stuhl und kam zu Trude. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, wie er es oft von Jakob gesehen hatte, und erkundigte sich mitfühlend: «Weh?»
«Ja», sagte Trude. «Es tut verdammt weh. Aber du kriegst deinen Weißen Sonntag, das wollen wir doch mal sehen. Und wenn ich bis zum Papst gehen muss.»
Sibylle Faßbender legte ihr eine Hand auf die andere Schulter. «Das hat doch keinen Zweck, Trude. Du regst dich nur auf und erreichst nichts. Das machen wir anders. Wir machen es hier. Und wir machen es nicht weiß, sondern bunt. Da hat er
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