Der Puppengräber
die Schokoladenflecke im Kleid ihrer Nichte. Trude half den Rüttgers-Schwestern beim Abräumen der Kaffeetafel. Bärbel und Uwe von Burg hielten sich unter dem Tisch an den Händen und schauten sich in die Augen. Uwe von Burgs jüngerer Bruder Winfried und Annette Lässler beobachteten das gespannt von einer stillen Ecke aus und amüsierten sich darüber.
Hilde und Otto Petzhold unterhielten sich im Flüsterton über die Brachialgewalt, mit der Ben die Gabelzinken verbogen hatte, und über Hildes graugetigerte Katze, die zwei Jahre zuvor spurlos verschwunden war.
Niemand nahm Notiz, als Ben die Schwingtür aufstieß, durch die man in die Backstube gelangte. Dort lag noch das Tortenmesser auf dem Tisch. Er kam auch gleich zurück, bevor seine Abwesenheit auffallen konnte. Erst als Hilde Petzhold aufschrie, erkannte Jakob, was vorging.
Das Messer mit der breiten Klinge in der ausgestreckten Hand steuerte Ben auf Dieter Kleu zu, der jetzt neben seiner Mutter stand und mit beiden Händen am Katzenbuchzerrte. Ben hob die Hand, stach zu und traf, neben dem graugetigerten Katzenbauch, auch zwei Finger von Dieter.
«Finger weg», sagte Ben.
Aber so schlimm war es nicht. Nur zwei Schnittwunden, die wenig später in der Notaufnahme des städtischen Krankenhauses in Lohberg genäht wurden. Und was niemand verstand, weder Bruno, der ja nicht persönlich gesehen hatte, wie es zu dem Unfall gekommen war, und sich auf die Aussage seiner Frau verlassen musste, noch Renate Kleu erhoben irgendwelche Vorwürfe.
Renate, Tage später von Thea Kreßmann auf den Vorfall angesprochen, erklärte sogar: «Das schadet ihm nichts. Jetzt hat ihm endlich mal einer gezeigt, dass er nicht alles haben kann.»
25. AUGUST 1995
Als Jakob an dem Freitagabend endlich heimkam, war es halb zehn. Wider Erwarten saß Ben mit Trude am Küchentisch. Er hing vorgebeugt über einem noch halb gefüllten Teller. Trude hatte ihm eine Hand auf den Arm gelegt und sprach auf ihn ein, verstummte jedoch, als Jakob die Küche betrat. Das Letzte, was Jakob verstand, war: «… mein Bester.»
«Na, das ist ja eine Überraschung», sagte Jakob.
Trude schaute auf und erklärte wie zur Entschuldigung: «Er war bis jetzt unterwegs und hat noch nichts gegessen. Ich hab’s gerade für ihn aufgewärmt. Es ist noch warm. Willst du auch was?»
Jakob nickte und fühlte sich auf unbegreifliche Art erleichtert. Er schlug seinem Sohn so kameradschaftlichauf die Schulter, dass Ben zusammenzuckte. «Na», sagte er in übertrieben jovialem Ton, «dann hast du dich wohl gründlich ausgetobt und gehst zur Abwechslung heute mal ins Bett.»
Jakob setzte sich. Und während Trude ihm einen Teller füllte, begann er von Edith Stern und ihrer heiklen Mission zu erzählen. Es war ihm ein ganz besonderes Vergnügen, vor Trude, die unerschütterlich glaubte, es gäbe keinen besseren Menschen im Dorf als Heinz Lukka, die früheren Verbrechen eines ehrenwerten Bürgers auszubreiten. Das war ein abendfüllendes Thema, weil Jakob zuerst erklären musste, warum er nie ein Wort über das Schicksal der ersten Edith Stern verloren hatte. Da konnte er sich Dieter Kleu, Albert Kreßmann und die Zeitungen für den nächsten Tag aufheben.
Trude war so schockiert und betroffen von seinen Ausführungen, dass sie nach dem Essen nur die benutzten Teller zusammenstellte, das Besteck hineinlegte; den Löffel, mit dem Ben sich die Mahlzeit in den Mund geschaufelt hatte, Messer und Gabel von Jakob. Sie stellte alles in den Ausguss, sagte gedankenverloren: «Ich wasche es morgen früh ab» und folgte Jakob ins Wohnzimmer. Dort setzte sie sich in einen Sessel.
Dass sie wie zum Sprung bereit nur auf der Kante saß, fiel Jakob zwar auf, doch er dachte nicht über die Gründe nach, machte es sich im zweiten Sessel gemütlich und erzählte weiter von Edith Stern und der unglaublichen Erkenntnis über den Sommer 44.
Für Trude war es, als bohre er ihr Nadeln ins Hirn. Alles in ihr sträubte sich, zu glauben, was er sagte. Ausgerechnet Heinz Lukka! Zu dem sie so oft gelaufen war, um ihr Herz auszuschütten, sich einen Rat zu holen und die Bestätigung, dass Ben gutmütig war. Vor ein paar Tagen hätte sie Heinz Lukka beinahe von Svenja KrahlsHandtasche erzählt, den Kratzern auf Bens Handrücken und den zerrissenen Fingerkuppen. Sie hatte fragen wollen, ob Heinz vielleicht auch ein Auto gehört hatte in der Julinacht, als er meinte, er hätte ein Mädchen schreien hören. Getan hatte sie es dann doch
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