Der Purpurkaiser
weiter aus, über die Insel, auf der der Palast stand, dann über den Fluss und dann, es war nicht zu fassen, über die ganze Stadt an seinen Ufern. Es war voll seltsam und total cool. Er sah belebte Hauptstraßen. Er sah ein schummeriges Simbalacafé und genoss die Musik, die sich darin wand. Er sah einen Straßenmusikanten, der auf einer Laute spielte. Er sah eine streunende Katze, die eine Maus verspeiste.
Henrys Geist dehnte sich weiter aus, mit einem Gefühl reiner Ekstase. Ranken seines Bewusstseins erstreckten sich in jeden Winkel des Elfenreichs. Er spürte das schlagende Herz der Wirklichkeit hinter den Erscheinungen und sah die Fäden, die alles miteinander verbanden. Er wollte sich ausdehnen, bis er die ganze Welt in sich aufgenommen hatte und die Welten dahinter gleich mit. Er dachte, er könnte sich immer weiter ausdehnen und das ganze Universum in sich aufnehmen. Ihm kam der Gedanke, dass er ja vielleicht Gott war.
Ihm kam der Gedanke, dass er ja vielleicht Blue finden konnte.
Dieser Gedanke brachte seine Ausdehnung zum Stillstand, gab ihm etwas, auf das er sich konzentrieren konnte. Schon konnte er Blue sehen, aber auf seltsame Weise. Er sah ihren gewundenen Lebensweg vor sich, wie sie sich durch Raum und Zeit bewegte, verschiedene Gegenden ihres Elfenreiches aufsuchte und einmal das Gewebe der Wirklichkeit durchstieß und beunruhigenderweise völlig aus dem Reich verschwand. Aber sie kehrte wieder zurück, dicht beim Austrittspunkt, und weiter ging es.
Wo war sie jetzt, in diesem Augenblick? Es war schwer zu erkennen, aber schon allein die Frage half ihm weiter. Er hatte das Gefühl, aus seinem Körper hinaus auf eine Waldlichtung zu treten. Blue war dort, Pyrgus auch, und ein bisschen abseits Mr Fogarty. Alle drei hatten sie ihre schmutzige, verknitterte Amtstracht an und lagen reglos auf dem Waldboden.
Sie sahen tot aus.
»Blue!!«, schrie Henry in tiefem Schmerz. Er verlor die Konzentration, die Kontrolle. Sein Geist dehnte sich ins Unendliche und sein Bewusstsein explodierte.
Henry fühlte sich, als hätte jemand seinen Kopf durch einen Fleischwolf gedreht und anschließend seinen Körper in einem Schraubstock zerquetscht. Alles tat ihm weh und er war schwach wie ein kleines Baby. Er schien sich kein bisschen bewegen zu können. Schon allein die Augen zu öffnen war eine Anstrengung und die Lider kratzten ihm über die Augäpfel, als wären sie aus grobem Sandpapier.
Er lag irgendwo auf dem Boden, seitlich zusammengerollt, beide Hände zwischen den Knien.
Er wusste irgendwie nicht richtig, wer er war.
Oder wo.
Seine Mundhöhle schmeckte wie eine Kloschüssel und seine Zunge war anscheinend auf doppelte Größe angeschwollen. In seinen Ohren klingelte es leise.
Vorsichtig bewegte er sich ein bisschen. Die Schmerzen am ganzen Leib wuchsen, dann ließen sie ein wenig nach. So ähnlich hatte es sich angefühlt, als er beim Fußball mal einen Wadenkrampf hatte. Bloß dass er jetzt in allen Muskeln einen Krampf hatte. Aber es ließ sich wohl aushalten. Er bewegte sich noch einmal und diesmal wuchsen die Schmerzen nicht mehr so stark. Ganz langsam streckte er sich und kam auf die Füße.
Mit dem Zimmer stimmte etwas nicht. Er versuchte darauf zu kommen, was nicht stimmte, aber sein Gehirn funktionierte nicht richtig.
Auf einmal drehte sich alles um ihn und er hielt sich an einem der Stühle fest.
Das war es! Blues Zimmer war normal groß. Er war normal groß. Und mit seinem Rücken stimmte etwas nicht. Sein Rücken fühlte sich… fühlte sich… es klang bescheuert, aber er fühlte sich irgendwie leer an.
Die Flügel waren weg!
Während er dort stand und sich am Stuhl festhielt, kam ihm der Gedanke, dass es Pyrgus vor kurzem genauso gegangen war. Als das Portal des Hauses Iris sabotiert worden war und aus ihm eine winzige Elfengestalt mit Schmetterlingsflügeln gemacht hatte, da hatte sich diese Wirkung irgendwann erschöpft und die Flügel waren wieder verschwunden. Aber das war erst nach ein paar Tagen passiert. War Henry etwa so lange bewusstlos gewesen? Das Herz rutschte ihm plötzlich in die Hose. Wie sollte er das alles nur Blue erklären? Die Gefahr war bestimmt längst gebannt und er hatte kein bisschen dazu beigetragen. Es war schrecklich.
Was hatte sie noch gleich gesagt? Dass der Leichnam ihres Vaters verschwunden war und dass eine Verschwörung gegen Pyrgus im Gange war mit dem Ziel, ihn zu ermorden? Ihm kam ein entsetzlicher Gedanke. Was, wenn die Verschwörung
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