Der Rabbi schoss am Donnerstag
Waffe leer ist. Aber warum? Einen Schuss kann man vielleicht unbemerkt abgeben, aber ein halbes Dutzend? Die können durchaus von jemandem gehört werden. Es ist einfach unlogisch. Also haben wir uns ein Szenario – wie es jetzt heißt – zurechtgelegt, nach dem eine Frau den Revolver packt, die Augen zukneift und schießt, bis es nur noch klickt und keine Kugeln mehr da sind. Dann macht sie die Augen auf und sieht, dass sie ihn erschossen hat. Selbstverständlich ist es möglich, dass nicht der erste Schuss ihn getroffen hat, dass aber der erste bei ihm einen Herzanfall ausgelöst hat und er entweder daran gestorben ist oder sich nicht bewegen konnte. Aber das ändert nichts an der Sachlage, und der Arzt meint, dass es nicht sehr wahrscheinlich ist. Nun ja, die einzige Frau in diesem Fall, die Einzige, von der wir wussten, war Martha Peterson, die Haushälterin. Auf die haben wir uns konzentriert. Aber unsere Ermittlungen haben ergeben, dass sie zur Tatzeit nicht hier gewesen sein kann. Also dachten wir an Billy Green …»
«Als einen Jungen, der beim Schießen die Augen zukneift?»
«So ungefähr. Oder er hat den Alten erschossen und sich dann gedacht, er könnte die restlichen Kugeln auch noch schnell verschießen. Wir haben sogar Stanley Doble in Erwägung gezogen – er hätte an jenem Abend so betrunken sein können, dass er nicht mehr wusste, was er tat. Aber so ganz zufrieden waren wir damit auch nicht.»
«Und dann schickte ich Ihnen Mrs. Mandell.»
«Genau.»
«Aber könnte es nicht auch so sein, dass der Mörder, nachdem er Jordon mit dem ersten Schuss getötet hatte, aus einem ganz bestimmten Grund weiterschoss?», sagte der Rabbi beharrlich. «Vielleicht hat er zum Beispiel die Lampe ausgeschossen, weil er nicht gesehen werden wollte.»
Lanigan grinste. «Dann wäre es doch viel einfacher gewesen, sie auszuschalten, nicht wahr? Gewiss, man könnte sich alle möglichen Gründe für die Schüsse ausdenken. Auf das Porträt hat er geschossen, weil er das Original hasste. Auf die Pillenflasche hat er geschossen, weil er einer von diesen Naturfanatikern ist und etwas gegen Medizin hat. Auf …»
«Auf die Uhr hat er vielleicht geschossen, um sich ein Alibi zu verschaffen», bemerkte der Rabbi. «Vielleicht hat er sie vorgestellt und dann auf sie geschossen, damit sie stehen blieb.»
Lanigans Grinsen wurde breiter. «Sicher. Nur dass uns niemand ein Alibi angeboten hat, weder Stanley noch Billy, Martha Peterson oder Gore …»
«Der hat ein Alibi», unterbrach ihn der Rabbi.
«Aber er hat es uns nicht angeboten. Als wir ihn verhörten, sagte er nur, er habe auf der Fahrt nach Boston angehalten, um jemanden anzurufen, und das sei irgendwann nach acht gewesen. Er hätte sich gut ein Alibi verschaffen können, denn in dem Büro der Tankstelle, wo er seinen Anruf tätigte, hing eine große Uhr mit einer Reklame für Motoröl an der Wand. Er hätte nur einfach zum Tankwart zu sagen brauchen: ‹He, geht ihre Uhr da oben richtig?› Aber er hat es nicht getan. Er hat überhaupt kein Alibi angeboten. Wir mussten es ermitteln.»
«Vielleicht ist das die beste Art.»
«Welche?»
«Die Art Alibi, die die Polizei erst ermitteln muss.»
Das Telefon schrillte. Mit einem leisen Fluch nahm Lanigan den Hörer ab und sagte, nachdem er eine Weile gelauscht hatte: «Ja, er ist hier. Einen Moment.» Laut rief er: «Für Sie, David. Miriam.»
Der Rabbi nahm den Hörer entgegen. Miriam sagte: «Ach, David, weißt du schon, wann du nach Hause kommst? Die Reuben Levys haben angerufen. Sie sind hier, in Cambridge, auf einer Hochzeit. Sie hatten uns gestern nicht anrufen wollen, weil Sabbat war. Aber sie möchten uns, falls möglich, gern sehen. Ich habe gesagt, du rufst zurück.»
«Die Reuben Levys?»
«Du weißt doch, vom Seminar.»
«Ach ja, natürlich. Die Stimme.»
«Genau.»
«Die Stimme ist hier? Na, so was! Ja, ich würde ihn auch gern wieder sehen, aber … Pass auf, ruf ihn doch an und frag ihn, ob du ihn etwas später anrufen kannst.»
«Du meinst, ich soll ihn jetzt anrufen und … Ja, schon gut. Ich habe verstanden.»
Es war ein ziemlich geistesabwesender Rabbi, der ins Wohnzimmer zurückkehrte. Lanigan lächelte mitfühlend. «Ein alter Freund, der angerufen hat?»
Aber der Rabbi antwortete nicht. Er hatte Halt gemacht und stand ganz still da, aufrecht, die Arme an den Seiten, die Fäuste geballt. Er hatte den Kopf zurückgelegt und starrte zur Decke hinauf.
«Was ist los?», erkundigte sich
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