Der Rabbi schoss am Donnerstag
Schriftgelehrten daran zu hindern, dass sie die wahre Religion zu einer Art praktischer, ethischer Kulturgesellschaft herabwürdigten. Sie haben keinen Gott, jedenfalls keinen, von dem sie Erlösung erwarten dürfen. Ihr Gott, bitte schön, kann nicht erkannt werden. Man kann ihn nicht sehen. Man kann ihn sich nicht einmal vorstellen. Er ist wie das X in der Algebra. Das ermöglicht es ihnen, alle Regeln und Gesetze zu rechtfertigen, die sie einführen wollen: ‹Tut dies, denn der Herr befiehlt es.› Glauben wird nicht verlangt. Sie kennen nicht die Hoffnung auf den Himmel, nicht die Angst vor der Hölle, sondern lediglich ein paar Verhaltensregeln, begründet mit einem: ‹So spricht der Herr.› Auf diese Weise brauchen sie nichts zu beweisen. Sie brauchen ihre Leute nicht davon zu überzeugen, dass dies oder jenes richtig oder lohnend oder klug oder praktisch ist. Es gibt keine Diskussion über andere oder bessere Möglichkeiten. Es heißt nur, dies ist Gesetz, weil der Herr es befiehlt. Sicher, sie haben einige gute Gesetze geschaffen – genau wie es jede andere regierende Körperschaft tun würde –, aber auch ein paar verdammt törichte. Nur, das ist alles ebenso wenig Religion, wie die amerikanische Verfassung Religion ist oder der Code Napoléon. Dagegen hat unser Herr Jesus gekämpft. Das war etwas ganz anderes als der Ausrutscher, mit dem Moses es zu tun hatte, als sie sich vom Gott Israels ab und anderen Göttern zuwandten. Denn das war eine Abwendung vom Grundkonzept der Religion als Bindeglied zwischen Mensch und Gott. Deswegen mag sie niemand, Ellsworth. Weil sie das einzige gottlose Volk sind.»
«Und damit wären sie Angehörige Ihrer Kirche, Ellsworth», sagte Megrim grinsend. «Nach unserem guten Doktor zu urteilen, sind sie ein Haufen von Atheisten.»
«O nein!» Mit einer weit ausholenden Geste wies Ellsworth Jordon diese Behauptung von sich. «Sie irren sich, Padre. Wir haben nichts gegen sie, weil sie gottlos sind! Vor allem ich würde sie deswegen nicht ablehnen. Mag sein, dass sie ihre Religion gegen eine ethische Kulturgesellschaft eingetauscht haben. Aber damit nicht zufrieden, mussten sie uns anderen auch noch Jesus aufhalsen. Erinnern Sie sich? Er ist einer von ihren Leuten. Uns haben sie ihn angehängt, aber sie haben sich aus der Affäre gezogen. Uns haben sie eine Religion verpasst, der niemand gerecht werden kann – halte die andere Backe hin, und so weiter –, während sie ein System, von mir aus auch einen Gesetzescode entwickelt haben, nach dem die Menschen leben können. Das ärgert uns nämlich, dass sie uns in eine Religion hineinmanövriert haben, die in uns ständig Schuldgefühle wachruft.»
«Aber Sie üben diese Religion doch nicht aus», wandte Megrim ein. «Sie behaupten, Atheist zu sein, also wüsste ich nicht, wieso Sie das berührt.»
«Natürlich berührt es mich», entgegnete Jordon. «Ich bin schließlich damit aufgewachsen, oder? Wenn man einem Einfluss so intensiv ausgesetzt wird, kann man ihn nie wieder ganz ablegen. Das ist es ja, was die Juden befähigt, so erfolgreich zu sein, in … na ja, allen möglichen Dingen. Sie können frei denken. Sie haben keinen Schuldkomplex. Sie werden nicht von Aberglauben behindert. Ihre Mathematiker, ihre Ärzte, ihre Physiker – nichts von dem, woran sie glauben, steht im Gegensatz zu ihren Wissenschaften. Sie brauchen nicht, wie wir, einen Teil ihrer Gedanken in einem Winkel abgeschlossen zu halten. Deswegen sind sie uns gegenüber ungeheuer im Vorteil. Sie können wirksamer arbeiten, deswegen scheint es, als lebten sie mit einer höheren Körpertemperatur.
Das Christentum, das sie uns oktroyierten, besteht aus Konzeptionen, die nicht mal ein Heiliger nachleben kann – und ich habe mich oft gefragt, wie deren Träume wohl ausgesehen haben. All dieses Zeug wie ‹die andere Wange reichen› oder ‹liebet eure Feinde› oder ‹wenn dich dein Auge ärgert, reiße es aus› übersteigt die Möglichkeiten eines normalen menschlichen Wesens.
Die Juden dagegen haben sich eine Religion gegeben – oder einen Moralkodex, wenn Sie so wollen –, nach der sich ein normaler Mensch richten kann, etwa, dass man einander helfen soll, einander respektieren soll, das Leben genießen soll, indem man isst, trinkt und Kinder zeugt. Und was ist das Ergebnis? Wir befolgen unsere Regeln nicht, weil sie unsere Kraft übersteigen, und behalten nur das Irrationale und die abergläubischen Elemente – die Angst vor der Hölle, das
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