Der Rabbi schoss am Donnerstag
Schuldbewusstsein, wenn unser Gehirn seine normale Funktion erfüllt und das Unmögliche in Frage stellt. Während die Juden sich an ihre Prinzipien halten, weil sie innerhalb der menschlichen Grenzen liegen. Und manchmal gelingt es ihnen sogar, die christlichen Regeln zu befolgen – wenn es zupass kommt oder geschäftlich günstig oder vernünftig ist – wie bei diesem ‹Barmherzigen Zaun›. Aber das ist schon wieder ‹liebet eure Feinde› und ‹reiche die andere Wange›.»
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. «He, wisst ihr was? Die sind ja überhaupt die einzige christliche Nation der heutigen Welt! Was sagen Sie dazu, Padre? Ihre Kirche versucht seit Hunderten von Jahren, sie zu bekehren, aber inzwischen haben sie sich selbst bekehrt, und Sie haben es nicht mal gemerkt.»
«Nun gut, Ellsworth, da Sie jetzt bewiesen haben, dass Juden eigentlich Christen sind, denken Sie da anders über die Mitgliedschaft von diesem Segal?», erkundigte sich Megrim grinsend.
«Verdammt noch mal – nein!», antwortete Jordon. «Ich werde trotzdem gegen diesen Scheißkerl stimmen.»
«Ich … Das verstehe ich einfach nicht», gestand Burkhardt.
«Was verstehen Sie nicht?», fragte Jordon.
«Einerseits behaupten Sie, Segal sei ein besserer Mensch als Sie, andererseits aber erklären Sie, dass Sie gegen ihn stimmen werden.»
«Na und? Angenommen, Sie sind ganz verrückt nach einer Frau, aber Sie wissen, dass sie gemein und primitiv und absolut eklig ist. Heißt das, dass Sie sie nicht mehr begehren? Verlangen, Abneigung oder die anderen Gefühle besitzen eine ganz eigene Logik.» Er grinste den Jüngeren an. «Wenn man jung ist, ist man vorsichtig mit dem, was man denkt. Man hat Ideen, aber wenn es nicht die richtigen Ideen sind, schiebt man sie beiseite. Entweder das, oder man verdreht sie so lange, bis sie akzeptabel sind. Man fürchtet, die Familie, den Chef, einen wichtigen Kunden oder Klienten zu verärgern. Wenn man aber so alt ist wie ich, vor allem, wenn man keine Familie, keinen Chef und keine wichtigen Kunden hat, besonders, wenn man, wie ich, bereits von den Schwingen des Todesengels gestreift worden ist, braucht man sich wegen der merkwürdigen Ideen, die einem in den Kopf kommen, keine Sorgen mehr zu machen. Man kann sie akzeptieren, sie bis zu Ende durchdenken und dann hingehen und tun, was einem passt.»
«Und es stört Sie nicht, wenn Sie inkonsequent sind?», fragte Burkhardt.
Jordon lächelte breit. «Einen Dreck kümmert es mich! Deswegen kann ich behaupten, dass der Jude ein besserer Mensch ist als ich, und trotzdem sagen, dass ich ihn nicht um mich haben will.»
«Wissen Sie was, Ellsworth?», sinnierte Megrim, den Blick zur Decke gerichtet. «Dieser junge Bursche, der da bei ihnen wohnt – den hat meine Frau gestern in der Bank gesehen, und sie sagt, sie fände, er sähe jüdisch aus.»
Jordon starrte ihn verständnislos an. «Großer Gott, an Billy hab ich ja überhaupt nicht mehr gedacht! Ich muss sofort los!» Hastig erhob er sich und verließ die Bar.
Obwohl Jordon sehr viel von Disziplin hielt, war er kein Zuchtmeister. Er hatte sich immer gehütet, Billy gegenüber allzu streng zu sein. Denn schließlich war er nicht der Erziehungsberechtigte. Außerdem wollte er, dass Billy ihn gern hatte.
Hätte er nur geahnt, dass der Junge so dickköpfig sein würde, er hätte ihn überhaupt nicht erst eingeschlossen. Er hatte erwartet, Billy würde nachgeben, bevor er zum Agathon aufbrach. Als er das nicht tat, musste er seine Drohung natürlich wahr machen, aber er hatte im Club höchstens auf einen Drink bleiben und spätestens nach einer halben Stunde zurück sein wollen. Sich in eine Diskussion verwickeln zu lassen, hatte er wirklich nicht beabsichtigt, und ganz bestimmt nicht in eine, die so lange dauerte wie diese.
Er schlug die Haustür hörbar hinter sich zu und erwartete nun, dass der Junge nach ihm rief, damit er ihn aus dem Zimmer lasse. Aber es kam nichts. Ein bisschen beunruhigt ging er zur Zimmertür des Jungen und klopfte. Dann legte er das Ohr an die Tür und lauschte angestrengt. Da er immer noch nichts hörte, schloss er auf und öffnete die Tür. Das Zimmer war leer!
Sofort war ihm klar, was geschehen sein musste: Der Junge war aus dem Fenster geklettert – kein großes Kunststück, da sich das Zimmer praktisch in Bodenhöhe befand. Das Fenster stand einen Spalt offen, anscheinend, damit er es bei seiner Rückkehr mühelos wieder hochschieben konnte. Trotzdem machte er den
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