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Der Rabbi

Der Rabbi

Titel: Der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Noah Gordon
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interessiert. Sind Sie denn kein Mann?«
    »Ich bin ein Mann«, sagte er freundlich, jetzt schon zwei Schritte von ihr entfernt, so daß ihr Spott ihn nicht berühren konnte. Sie wandte sich herum und ging ins Haus, und diesmal blieb er stehen und sah ihr nach und bewunderte ihren noblen, unbekümmerten Gang, mit dem Gefühl, daß er sich durch seine Standhaftigkeit das Recht dazu erworben hätte. Dann griff er nach seiner Jacke und ging um das Haus herum zum Wagen. Als er die Wagentür öffnete, pfiff etwas über seinen Kopf, so knapp, daß er den Luftzug spüren konnte, und schlug dann ans Wagendach, wo es eine Kerbe hinterließ. Im Zubodenfallen hatte sich die Schachtel geöffnet, und einiges von ihrem Inhalt fiel heraus, aber zum Glück waren die meisten Karteikarten geordnet und stapelweise mit Gummischnürchen zusammengehalten. Einen Augenblick lang blendete ihn die Sonne, als er aufblickte, aber dann sah er die Frau an dem geöffneten Fenster im ersten Stock. »Geht's jetzt besser? Möchten Sie, daß ich Ihnen jemanden herausschicke, der bei Ihnen bleiben könnte?«
     
    »Ich möchte, daß Sie sich zum Teufel scheren«, sagte sie sehr akzentuiert. Nachdem sie vom Fenster weggegangen war, kniete er hin, hob die Mitgliederlisten auf und verstaute sie wieder in der auf einer Seite aufgeplatzten Holzschachtel. Dann stieg er in den Wagen, startete und fuhr davon.
    Er war schon eine Weile gefahren, als er, ohne zu wissen, warum, den Wagen an den Straßenrand lenkte, eine Zigarette anzündete und versuchte, nicht daran zu denken, wie einfach es wäre, zu wenden und den Weg zurückzufahren, den er gekommen war. Nach wenigen Zügen löschte er die Zigarette im Aschenbecher, stieg aus und ging in den Wald. Beim würzigen Duft der Heidelbeeren wurde ihm wohler. Er marschierte tüchtig drauflos, bis er in Schweiß geriet und nicht mehr an Jean Elkins, an Leslie und an den Tempel dachte. Schließlich kam er an ein Flüßchen, das, etwa zweieinhalb Meter breit, seicht und klar dahinzog. Der Grund bestand aus Sand und abgefallenen Blättern.
    Michael zog die Schuhe aus und watete in das kalte Wasser. Er konnte keinen Fisch entdecken, aber nahe dem vor ihm liegenden Ufer sah er Wasserläufer ihr Spiel treiben, und unter einem Stein fand er einen Krebs, den er einige Meter weit stromabwärts verfolgte, bis er unter einem anderen Stein verschwand. In den Binsen über ein paar Miniaturstromschnellen saß eine gelbgezeichnete Spinne in einem großen Netz, und plötzlich fiel ihm die Spinne in der Baracke zu Cape Cod wieder ein, die Spinne, mit der er in jenem Sommer vor dem College gesprochen hatte. Kurz erwog er die Möglichkeit, auch jetzt mit der Spinne zu sprechen, aber die traurige Wahrheit war, daß er sich zu alt dafür fühlte; vielleicht lag es aber auch nur daran, daß er und diese Spinne einander nichts zu sagen hatten.
    »He«, rief eine Stimme vom andern Ufer ihn an.
    Ein Mann stand auf der Böschung und sah zu Michael herunter, der nicht wußte, wie lange er von seinem Gegenüber schon beobachtet worden war. »Hello«, sagte Michael.
    Der Mann trug die Arbeitskluft eines Bauern: abgetragene blaue Arbeitshosen, milchbespritzte Schuhe und ein verschwitztes blaues Hemd. Die Bartstoppeln auf seinen Wangen waren vom selben Grau wie der zerknitterte, bandlose Hut, der ihm etwas zu groß war, so daß die Krempe fast auf seinen Ohren aufsaß. »Das ist Privatgrund«, sagte der Mann.
    »Ach so«, erwiderte Michael. »Ich habe keine Tafeln gesehen.« »Pech für Sie. Es gibt aber Tafeln. Fischen und Jagen ist hier verboten.«
    »Ich habe nicht gejagt oder gefischt«, sagte Michael.
    »Machen Sie, daß Sie mit Ihren dreckigen Füßen aus meinem Bach rauskommen, oder ich laß die Hunde los«, sagte der Bauer. »Die Sorte kenn ich. Kein Respekt vor fremdem Eigentum. Was, zum Teufel, treiben Sie da überhaupt? Watet im Bach herum mit aufgekrempelten Hosen wie ein Vierjähriger! «
    »Ich bin in den Wald gegangen«, sagte Michael, »weil ich mit mir zu Rat gehen wollte, weil ich den wesentlichen Dingen des Lebens gegenüberstehen und versuchen wollte, etwas von ihnen zu lernen, um nicht einmal, angesichts des Todes, entdecken zu müssen, daß ich nicht gelebt habe.« Er watete ans Ufer und hielt nahe dem Bauern an, um sich die Füße sehr bedächtig mit seinem Taschentuch zu trocknen, das zum Glück sauber war. Dann zog er Socken und Schuhe wieder an und rollte die völlig zerdrückten Hosenbeine herunter. Auf dem Rückweg durch

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