Der Rache dunkle Saat - Booth, S: Rache dunkle Saat - One Last Breath
durchgefroren.
Er hatte keine Ahnung, welchen Weg Quinn eingeschlagen hatte. Eigentlich war es sogar unmöglich einzuschätzen, in welcher Richtung der Gang verlief. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Wand zu suchen und sich an ihr entlangzutasten. So würde er zwar nur langsam vorankommen, aber eine bessere Alternative hatte er momentan nicht. Vielleicht würde er zumindest feststellen können, ob er nach oben oder nach unten ging – aus der Höhle hinaus oder tiefer in sie hinein. Cooper wusste nur, dass er sich im Devil’s Dining Room befand. Im Licht von Quinns Taschenlampe hatte er die schwarzen Stalaktiten an der Decke erkannt: die Devil’s Hooks, die »Teufelshaken«.
Er setzte sich in der Dunkelheit in Bewegung, blieb aber nach ein paar Schritten stehen, da er Angst hatte, gegen irgendetwas Hartes zu stoßen. Wie ein Blinder tastete er den Bereich vor sich ab. Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, zu bleiben, wo er war, und darauf zu warten, gerettet zu werden. Doch er war nass vom herabtropfenden Wasser und begann zu frieren, sobald er stehen blieb. Er wusste, dass er Gefahr lief, sich zu unterkühlen, wenn er zu lange hier unten blieb. Leider hatte er keinen Atemlufterwärmer zur Hand, wie er bei Höhlenrettungen benutzt wurde.
Cooper setzte sich wieder in Bewegung. Es kam ihm vor, als habe die Dunkelheit nicht nur seine Fähigkeit beeinträchtigt, logisch zu denken und die Perspektive zu wahren, sondern auch seine Sinneswahrnehmung getrübt. Er versuchte, sich zu erinnern, wie weit er von dem Ort entfernt war, an dem Neil Moss ums Leben gekommen war, im Kalkstein gefangen und seiner Atemluft beraubt. Obwohl es auf der Karte so ausgesehen hatte, als habe sich die Tragödie tief im Höhlensystem abgespielt, schien Moss’ Gegenwart plötzlich unmittelbar.
Und wer wusste schon, wovon er in der völligen Finsternis umgeben war? Die Kammer hätte bis unter die Decke voller Leichen sein können, voller verschütteter Toter, die niemand jemals zu Gesicht bekommen würde. Bei dem modrigen Gestank in seiner Nase hätte es sich um den Verwesungsgeruch ihrer Gebeine handeln können, blankgenagt von blassen, fetten Insekten, die, von Menschenfleisch aufgedunsen, abgefallen und in den eiskalten Wasserlachen verendet waren. Wenn Cooper die Hand ausgestreckt hätte, wären seine Finger vielleicht gar nicht mit Fels, sondern mit einem glatten Schädel, einer Augenhöhle oder den staubigen Überresten der Haartracht eines jungen Mannes in Berührung gekommen.
Cooper fühlte sich wie jemand, der durch seine eigenen Träume wandert, durch eine verdunkelte, imaginäre Landschaft, in der alles echt oder alles falsch sein mochte.
Als er mit der Schuhspitze gegen ein festes Hindernis stieß, hielt er inne. Er tastete mit dem Fuß und streckte eine Hand aus, die er vorsichtig nach unten bewegte, um die Höhe des Hindernisses zu ermitteln. Es handelte sich um einen niedrigen Felsblock, der nur einen guten halben Meter hoch war. Hätte er sich nicht so langsam vorwärtsbewegt, wäre er vielleicht darüber gestolpert. Dahinter spürte er nichts als Leere.
Cooper wurde bewusst, dass er in der Höhle mit völliger Stille gerechnet hatte. Dunkelheit und Stille schienen Hand in Hand zu gehen. Doch er hatte sich getäuscht. Der Fluss, der
tief unter dem Kalkstein hindurchführte, befand sich weit unter ihm, aber er konnte sein Rauschen durch den Fels hören. Außerdem floss Wasser durch die Gänge, rieselte über Sinterkrusten, sickerte aus den Wänden und tröpfelte von der Decke herab. Ständig war irgendwo Wasser in Bewegung.
Doch es war noch etwas anderes zu hören – etwas, das er nur vernahm, wenn er aufmerksam lauschte. Es handelte sich dabei um ein unterschwelligeres Geräusch, um einen sanften Rhythmus, der unter Umständen von der Luftbewegung verursacht wurde, womöglich aber auch nur in seinem Kopf existierte: das rhythmische Rauschen von Gezeiten in der Ferne, unsichtbar in der unendlichen Finsternis. Tief in der Höhle und seines Sehvermögens beraubt, empfand Cooper diese Sinneseindrücke als seltsam beruhigend. Die Geräusche, die ihn umgaben, kamen ihm vor wie die flüssigen Regungen einer Gebärmutter und das ferne Schlagen eines mütterlichen Herzens.
Selbstverständlich existierte so etwas wie Stille nicht. Zumindest nicht auf der Erde. Selbst die Bewegung der Atmosphäre ließ den Planeten summen, ließ ihn läuten wie eine Glocke, deren Frequenz für das menschliche Gehör nicht wahrnehmbar
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