Der Rache dunkle Saat - Booth, S: Rache dunkle Saat - One Last Breath
Haar hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie wirkte äußerst ruhig und gefasst. Doch Diane Fry hatte gesehen, dass sie beinahe vor ein Auto gelaufen wäre, als sie über den Parkplatz zur Leichenschauhalle gegangen war.
Ihr Bruder wirkte aufgewühlter. Er hielt sich an Andreas Hand fest und sah beinahe wie eine ältere Version von ihr aus, nur mit etwas hellerem Haar und ein Stück größer. Obwohl Fry zunächst dachte, Simon verfüge nicht über die Kraft, seine Mutter zu identifizieren, war er derjenige, der als Erster sprach.
»Ja, das ist sie. Das ist unsere Mutter.«
»Vielen Dank, Sir.«
Simons Stimme war sehr tief, und er bewegte beim Sprechen kaum den Mund, als sei alle Energie aus ihm gewichen. Seine Schwester sagte gar nichts, beugte sich jedoch näher zur Scheibe, so nahe es ging. Sie ließ die Hand ihres Bruders los und presste die Finger gegen das Glas wie ein kleines Kind, das ins Schaufenster eines Spielzeuggeschäfts starrt. Ihr Atem
beschlug die Scheibe, und sie berührte den feuchten Fleck mit der Stirn.
Auf der anderen Seite des Fensters zögerte der Mitarbeiter des Leichenschauhauses, da er nicht wusste, ob die Identifizierung bereits stattgefunden hatte und er die Verstorbene wieder zudecken konnte oder ob er den Hinterbliebenen noch einen letzten, sehnsüchtigen Blick gewähren sollte.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Miss Lowe?«, erkundigte sich Fry.
Andrea nickte, aber Simon zog ihre Hand von der Scheibe weg und umschloss sie. Hitchens trat von einem Fuß auf den anderen und sah sich nach dem Familienbetreuer um, der dafür ausgebildet war, sich um trauernde Angehörige zu kümmern.
»Sie wissen ja, dass wir nach Ihrem Vater suchen«, sagte Hitchens. »Er wurde gestern aus dem Gefängnis entlassen.«
Dann geschah etwas Seltsames. Simon Lowes Gesichtsfarbe veränderte sich. Fry hatte das bereits häufiger bei Hinterbliebenen beobachtet, wenn sie ihre Liebsten identifizierten – aber in der Regel wurden sie blass oder im schlimmsten Fall grün im Gesicht. Doch Simon lief rot an, und zwar beinahe violett. Blut strömte ihm ins Gesicht und in den Hals, bis er Fry an den Leichnam eines Strangulationsopfers erinnerte, der vor wenigen Monaten auf demselben Leichentisch gelegen hatte wie Rebecca Lowe.
»Falls Sie Mansell Quinn meinen«, sagte Simon, »er ist nicht mein Vater.«
»Oh, aber ich dachte...«
Andrea wandte sich von der Scheibe ab, schlang die Arme um ihren Bruder und wurde im Handumdrehen wieder zur kleinen Schwester. Simon nahm einen tiefen Atemzug, der in seiner vor Emotionen angeschwollenen Luftröhre rasselte.
»Er war mein Vater. Aber jetzt ist er es nicht mehr. Er ist seit vierzehn Jahren nicht mehr mein Vater.«
»Ich verstehe«, sagte Hitchens.
»Ach ja?«
»Ich glaube, ich verstehe, wie Sie empfinden. Falls Sie trotzdem irgendeine Idee haben, wo sich Ihr... ich meine, wo sich Mr. Quinn derzeit aufhalten könnte, würden Sie es uns dann bitte wissen lassen?«
»Natürlich würden wir das«, erwiderte Simon.
»Und Sie, Madam?«
Hitchens wartete höflich auf eine Antwort von Andrea.
»Ich hab mit Mum gesprochen. Kurz bevor es passiert ist. Ich hab mit ihr telefoniert und sie gebeten, auf sich aufzupassen. Ich hatte den Eindruck, dass sie die Situation nicht ernst genug nahm. Aber so war Mum nun mal – sie zog es vor, das Leben zu genießen, anstatt sich ständig wegen irgendwas Sorgen zu machen.«
»Wir müssen Sie bitten, eine Aussage zu machen«, sagte Hitchens. »Sobald Sie sich dazu in der Lage fühlen.«
»Das möchte ich heute machen«, entgegnete sie.
»In der Zwischenzeit...«
»Wir werden Ihnen alles sagen, was helfen könnte, Inspector.«
Fry stellte fest, dass Simon wieder die Kontrolle übernommen hatte. Rebecca Lowes Kinder hingen aneinander, als wären sie unzertrennlich.
Der Viehmarkt, der sich früher an der Hauptstraße in Hope befunden hatte, war abgerissen worden. Vielleicht hatte er durch den Ausbruch der Maul- und Klauenseuche im Jahr 2001, als alle Viehmärkte für ein Jahr geschlossen worden waren, zu gro ße Verluste hinnehmen müssen. Inzwischen waren auf dem Gelände Wohnungen gebaut worden.
»Mansell Quinn wurde zu zwanzig Jahren verurteilt«, sagte Ben Cooper. »Da er keine Bewährung bekommen hat, muss er bis zu seiner automatischen Entlassung zwei Drittel seiner Haftstrafe abgesessen haben. Das heißt, äh...«
»Dreizehn Jahre und vier Monate.«
Diane Fry sah kurz auf, als Cooper wegen eines
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