Der Rache dunkle Saat - Booth, S: Rache dunkle Saat - One Last Breath
dass er keine Erinnerungen hatte, über die er hätte sprechen können. Vielleicht dachten sie, dass er ein neues Leben anfangen und alles hinter sich lassen wollte.
Doch Quinns Erinnerungen waren noch immer da. Sie ruhten kalt und schwer auf seinem Herzen. Für ihn waren sie wie die versteinerten Gegenstände in den Quellen von Matlock Bath, die sein Vater ihm als Kind gezeigt hatte. Einige davon waren gewöhnliche Haushaltsutensilien, die jedoch kaum noch als solche zu erkennen waren, nachdem zahllose Kalkschichten sie Tropfen um Tropfen nutzlos gemacht, aber in ihren grotesken Formen für die Ewigkeit erhalten hatten. Sie waren zu Stein geworden.
Sein Vater hatte ihm von einem versteinerten Vogelnest erzählt, das seiner Großmutter gehört hatte. Es war das Geschenk eines Verwandten gewesen, der im Peak District Urlaub gemacht hatte – und die einzige Verbindung der Familie Quinn mit Derbyshire, bis sie schließlich dorthin zog. Wie die anderen Souvenirs, die in den Geschäften von Matlock Bath verkauft wurden, hatte es in einer der versteinernden Quellen gelegen, bis es von Kalk bedeckt war und das eigentümliche Aussehen angenommen hatte, das die Besucher so sehr schätzten.
Quinn hatte das Nest nie zu Gesicht bekommen, sich aber in seiner Phantasie ein Bild davon gemacht. Was ihn am meisten beeindruckt hatte, war die Tatsache, dass das Nest Eier enthielt.
»Vier Stück«, hatte sein Vater gesagt und vier Wurstfinger hochgehalten, die von bläulichen Narben übersät waren, als hätte sein Sohn nicht zählen können. »Echte Eier, die zu Stein geworden sind. Stell dir nur die Küken darin vor.«
»Sind die Küken auch zu Stein geworden?«
»Das weiß ich nicht, mein Junge. Wir haben die Eier nie aufgemacht, um nachzusehen.«
Die Vorstellung stieß Quinn ab, faszinierte ihn aber gleichzeitig. In der Schule hatte er gelernt, dass Eier neues Leben symbolisierten. Doch hier war Leben im Keim erstickt und zur Erheiterung von Tagesausflüglern in Stein verwandelt worden. Das war damals in seinen Augen bezeichnend für den Peak District gewesen – für einen Ort, an dem sein Mut gebrochen und er gezwungen wurde, sich seinen Weg hinaus in die Welt aufs Neue zu erkämpfen. Er fühlte sich erdrückt vom Gewicht der Felsen, die er in den Hügeln erkennen konnte.
»Was für ein Vogel hat das Nest gebaut?«, hatte er seinen Vater immer wieder gefragt, da er Details brauchte, um die Geschichte zu begreifen.
Aber er hatte jedes Mal dieselbe Antwort bekommen: »Woher soll ich das wissen?«
»Eine Amsel, Dad? Ein Star? Etwas Größeres?«
»Ich hab keine Ahnung. Was spielt das denn für eine Rolle, in Gottes Namen?«
»Wozu hatte Großmutter das Nest?«
»Sie hatte es einfach, das ist alles.«
Dann war sein Vater immer mürrisch geworden und hatte sich wieder seiner Zeitung zugewendet oder war hinaus in den Garten gegangen, um einen Blick auf sein Gemüse zu werfen. Und wenn er die Geschichte das nächste Mal erzählt hatte,
war es genau dasselbe gewesen. Er hatte das Bedürfnis seines Sohnes nach einer Erklärung nie verstanden.
Quinn glaubte, dass es eine Möglichkeit geben musste, seine versteinerten Erinnerungen zu begreifen, sie gewaltsam zu Tage zu fördern und die Sonne die Kalkschichten durchdringen zu lassen, um die ursprünglichen Formen darunter ans Licht zu bringen.
Doch Erinnerungen schienen an persönliche Dinge geknüpft zu sein, und davon besaß er nur sehr wenige. Sein Leben war jahrelang von den Vorschriften des Strafvollzugssystems bestimmt gewesen. Die persönlichen Gegenstände, die man ihm in seiner Zelle gestattet hatte, unterlagen der so genannten »volumetrischen Kontrolle«, was bedeutete, dass alles, was er besaß, in zwei Schachteln passen musste. In bestimmten Zeitabständen wurde seine Zelle inspiziert, um sicherzustellen, dass er nicht gegen die Anordnungen verstoßen und sich ein Privatleben geschaffen hatte, das über sein batteriebetriebenes Radio und seine gesetzlich vorgeschriebenen drei Bücher und sechs Zeitungen hinausging.
Viele der erlaubten Gegenstände hatten ohnehin keine Bedeutung für ihn. Tagebücher und Kalender waren ihm wie eine selbst verabreichte Folter vorgekommen, und er besaß keine Familienfotos, die er in seinen Spind hätte hängen können.
Als Quinn nach einer Weile bewusst wurde, dass sein Mangel an persönlichen Gegenständen ein schlechtes Licht auf seine Eignung für Bewährung werfen könnte, abonnierte er die Zeitschriften Peak District und
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