Der Rache Suesser Klang
Sie hatte sein Medikament aus dem Rucksack geholt, es ihm gezeigt, dann wieder in den Rucksack geworfen. Er brauchte das Keppra, das wusste er. Ohne das Mittel würde er bald einen Anfall bekommen.
Und er musste vorher entkommen.
Sie hatte ihm den Mund zugeklebt, damit er nicht schreien konnte, und ihn unter das Bett geschoben. Hier war es noch viel muffiger als unter den Schwimmwesten, unter denen Cheryl ihn versteckt hatte.
Cheryl.
Er durfte nicht an sie denken. Er durfte nicht weinen. Der Staub unterm Bett war schlimm genug. Wenn er jetzt noch schniefte und schluchzte, würde er ersticken.
Er hatte Angst. Er fürchtete sich unter dem Bett, aber er fürchtete sich auch, hervorzurobben. Denn falls sie da war … Sie hatte diese Frau umgebracht, diese Freundin von Evie. Genauso wie Cheryl. Und den Arzt. Er schauderte, wie immer, wenn er an den Arzt und die Finger in der Kühlbox dachte.
Sie wird mich auch töten.
Und es war leichter, dort aufzuhören und nicht daran zu denken, was sie mit dem Messer noch alles anstellen konnte. Das Messer war schrecklicher als die Pistole.
Eine Spinne kroch über sein Gesicht. Die dritte, dachte er, vielleicht auch die vierte. Er biss die Zähne zusammen, um das Bedürfnis zu schreien niederzukämpfen, und zwang sich, an die bescheuert aussehenden Comic-Spinne auf der Karte zu denken, die Cheryl benutzt hatte, um mit ihm das Wort zu üben.
Spin-nä.
Wieder und wieder.
Kein Wort,
hatte Cheryl gesagt, und inzwischen glaubte er zu wissen, warum. Das Miststück wusste, dass er taub war. Aber nicht, dass er sprechen konnte. Nicht einmal seine Mutter wusste es. Nur Cheryl. Sie würden Fortschritte machen, hatte sie gesagt. Sie hatten »Big Mac, Pommes und eine Cola« geübt, damit er zu McDonald’s gehen und seine Mutter überraschen konnte.
Aber er hatte es noch nie in Gegenwart einer anderen Person versucht. Niemals gesprochen, wenn jemand anderes da war. Er wusste nicht, wie er sich anhörte. Cheryl hatte von Fortschritt gesprochen, aber sie konnte ihn auch belogen haben. Er hörte sich vielleicht vollkommen blöd an, und niemand würde ihn verstehen. Aber Cheryl hatte nie gelogen. Sie war so mutig gewesen. Hatte versucht, ihn zu beschützen. Und nun war sie tot.
Ich schulde ihr mehr, als hier nur ängstlich unter dem Bett zu liegen,
dachte Alec und wappnete sich gegen das Schlimmste.
Er rollte sich unter dem Bett hervor und erwartete beinahe, dass das Miststück dort stehen und auf ihn herabschauen würde. So wie sie im Schrank auf ihn herabgesehen hatte. Aber sie war nicht da.
Die Luft hier war besser, aber er konnte immer noch nicht richtig atmen. Er konnte die Badezimmertür sehen, hinter der sich Evie befand. Tot oder lebendig, er wusste es nicht. Aber mit ihr würde er eine bessere Chance haben. Außerdem hatte auch sie versucht, ihn zu beschützen. Falls sie lebte, konnte er sie nicht einfach zurücklassen. Wenn er sich an der Tür aufrichtete, konnte er den Türknauf vielleicht drehen. Er holte durch die Nase so viel Luft, wie er konnte. Und begann, auf die Tür zuzurobben.
Chicago
Donnerstag, 5. August, 0.30 Uhr
Dana wollte keinen Sex. Sie wollte Nähe. In der vergangenen Nacht war jemand da gewesen, als die Alpträume sie überfallen hatten. Der Tag war grauenvoll gewesen, aber sie hatte es geschafft, nicht zusammenzubrechen. Sie hatte sich gezwungen, nicht darüber nachzudenken, wo Evie und Alec waren. Ob sie noch lebten.
Bitte lass sie unversehrt sein.
Aber nun in der Stille der Nacht würden die Träume kommen. Das taten sie zuverlässig, und heute würden sich neue dazugesellen. Sie rollte sich auf den Rücken. Starrte auf ihre Hände. Sie hatte Blut an den Händen gehabt. Sandys Blut. Im Traum würde sie wieder Blut an den Händen haben. Und sie würde aufwachen, panisch sein, innerlich schreien, sie wusste es.
Und sie hatte so sehr gehofft, dass sie auch heute nicht allein sein musste.
Aber Ethan hatte ein Recht darauf, seine Ruhe zu haben, wenn es das war, was er wollte. Er hatte heute eine Menge durchgemacht. Hatte Alec gefunden, ihn wieder verloren. Hatte sich mit der Verzweiflung seiner Freunde auseinandersetzen und zwei Polizisten gestehen müssen, dass er ihre Arbeit behindert hatte. Hatte ihr gestehen müssen, was er getan hat. Ihr – aber was war sie? Seine Freundin? Ein kurzes Abenteuer? Eine Geliebte?
Letzteres wohl. Und ihr Liebhaber hatte vor, ganz allein im Wohnzimmer zu schlafen. Wenigstens eine Decke und ein Kissen konnte sie ihm
Weitere Kostenlose Bücher