Der Rache Suesser Klang
Mal schon in den vergangenen sechsunddreißig Stunden. Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, wäre er sich albern vorgekommen.
»Ich suche eine Frau und einen kleinen Jungen.« Er zuckte nachlässig mit den Schultern. »Eine Vormundschaftsangelegenheit. Die Mutter hat das Kind von der Schule abgeholt und ist mit ihm verschwunden.«
Er sprach die Lüge inzwischen sehr glatt und routiniert aus, da er sie immerhin schon sechs Mal in den vergangenen sechsunddreißig Stunden hatte üben können.
»Sie ist möglicherweise hier durchgekommen, und ich würde gerne ihre Überwachungsbänder sehen.«
Dann hielt er den Atem an. Genau genommen musste ihm niemand die Bänder ohne richterlichen Beschluss zeigen, aber bisher hatte er fünfmal Glück gehabt. Er betete stumm um das sechste Mal.
Der Wachmann verengte die Augen. »Da muss ich erst mit dem Dienst habenden Manager sprechen.«
Ethan lehnte sich mit dem Rücken an die Theke und stützte sich schwer auf die Ellenbogen. Vor Kandahar hätten vier Stunden Schlaf für die nächsten achtundvierzig gereicht. Aber die Zeiten waren vorbei. Er musste nicht erst auf die Uhr sehen, um festzustellen, dass er seit Freitag nicht mehr geschlafen hatte. Die Marschkapelle, die durch seinen Kopf zog, war Beweis genug. Sein Handy surrte in seiner Tasche und machte ihn wieder hellwach. Die Nummer verriet ihm, dass es sich um Clay handelte. »Ja?«
»Wo bist du?«, fragte Clay.
»In Chicago. Endlich.«
»Und?«
Von seiner Position am Schalter des Busbahnhofs konnte Ethan beobachten, wie der Wachmann mit dem Mann, der im Managerbüro saß, sprach. Der Mann hob den Kopf, und Ethan spürte seinen stechenden Blick aus der Entfernung von zwanzig Fuß. »Ich fürchte, die lassen mich die Bänder erst sehen, wenn ich geduscht habe und rasiert bin.«
»Dann such dir ein Hotel und schlaf ein paar Stunden«, sagte Clay scharf. »Du bist wahrscheinlich so erschossen, dass du Alec übersiehst, wenn er auf der Aufnahme zu sehen ist.«
»Möglich.« Wahrscheinlich. »Ist noch eine E-Mail eingegangen?«
Clays Stimme nahm einen besorgten Tonfall an. »Nein.«
Was gar nicht gut war. Das musste keiner von ihnen aussprechen. Es war nun vier Tage her, dass Alec entführt worden war, und die Kidnapper hatten sich nur ein einziges Mal gemeldet. Keine Informationen. Keine Lösegeldforderungen. Keine Anrufe, keine E-Mails, nichts.
»Wir müssen bald irgendetwas in die Finger bekommen.« Ethan rieb sich seine schmerzende Stirn. »Ich brauche bloß einen Hinweis auf die Stadt, in der sie sich befindet. In St. Louis jedenfalls nicht«, fügte er bitter hinzu.
»Hör endlich auf, dich dafür zu kasteien, Ethan. Du hast nur logische Schlüsse gezogen.«
Ethan presste die Kiefer aufeinander. »Hoffen wir bloß, dass meine
logischen Schlüsse
Alec nicht umbringen.«
»Hör auf.« Clays Stimme war wieder scharf. »Du hast getan, was du tun konntest. In den letzten sechsunddreißig Stunden hast du sie von diesem Copy Store in Morgantown bis ganz nach Chicago verfolgt. Das ist nicht übel, also spar dir deine Selbstvorwürfe.«
Ethan sog die Luft ein. »Ja, schon gut.« Er stieß den Atem wieder aus und zwang sich, ruhiger zu werden. »Ich bin einfach nur frustriert. Ich jage diese Frau seit eineinhalb Tagen, weiß aber immer noch nicht, wie sie aussieht.« Auf jedem Überwachungsband, auf dem er sie entdeckt hatte, war ihr Gesicht von einer großen Baseball-Kappe verdeckt gewesen.
»Weil sie nicht will, dass du es weißt«, sprach Clay das Offensichtliche aus. »Dumm ist sie nicht. Du selbst dozierst doch immer darüber, dass man nicht sehen kann, was die Kamera nicht erfasst.«
»Ja, du hast ja Recht. Ich weiß es.« Bisher hatte Ethan eine Suche von dieser Art immer höchst professionell, ja leidenschaftslos durchgeführt, hatte terroristische E-Mails zurückverfolgt, Luftbilder ausgewertet, Höhlen und Tunnel ausfindig gemacht. Aber diesmal war es anders. Diesmal ging es um Alec. »Aber jetzt hat sie einen noch größeren Vorsprung. Verdammt, was habe ich mir bloß dabei gedacht?«
»Bring mich nicht dazu, dir nachzufahren und in den Hintern zu treten, Ethan«, warnte Clay. »Sie hat zwei Tickets nach St. Louis über Columbus, Ohio, gekauft. Es war nur sinnvoll, direkt nach St. Louis zu fahren, um ihren Vorsprung zu verkleinern.«
»Was genau das war, was sie von uns wollte. Ich habe mindestens fünfzehn Stunden verloren, weil ich ihr auf den Leim gegangen bin.« Er hatte Randi anrufen und ihr
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