Der Raecher
hinterlassen haben.«
»Das ist der springende Punkt«, erwiderte Marković. »Er war das alles. Und obendrein gewalttätig. Unter Milošević wurde nicht diskutiert. Anscheinend hat er alle Akten über sich vernichtet, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat. Bei der Polizei, bei der Justiz, beim Staatsfernsehen und bei der Presse, überall. Verwandte, Schulkameraden, ehemalige Kollegen, keiner
will über ihn reden. Sind alle eingeschüchtert worden. Der Mann ohne Gesicht, das ist er.«
»Wissen Sie noch, wann der letzte Versuch unternommen wurde, über ihn zu schreiben?«
Marković überlegte eine Weile.
»Jetzt, wo Sie es erwähnen, fällt es mir wieder ein. Jemand soll es mal versucht haben. Ist aber nichts draus geworden. Nach Miloševićs Sturz und Zilićs Verschwinden wollte er einen Artikel schreiben, aber die Sache wurde wohl abgeblasen.«
»Und wer war das?«
»Nach Auskunft meines Informanten arbeitete er für eine Zeitschrift hier in der Stadt. Sie heißt Ogledalo, das bedeutet ›Spiegel‹ . «
Die Zeitschrift Ogledalo existierte noch, und ihr Herausgeber war immer noch ein gewisser Vuk Kobac. Obwohl die neue Ausgabe gerade in Druck ging, war er bereit, dem Amerikaner ein paar Minuten seiner Zeit zu opfern. Doch seine Begeisterung verflog, als er hörte, um wen es ging.
»Dieser verfluchte Kerl«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte nie von ihm gehört.«
»Was ist passiert?«
»Es ging um einen meiner Freien. Netter Junge. Ehrgeizig, fleißig. Er wollte eine Redakteursstelle. Ich hatte keine frei. Doch er bettelte um eine Chance. Also gab ich ihm einen Auftrag. Er hieß Petrović. Srechko Petrović. Gerade mal zweiundzwanzig. Armer Teufel.«
»Was ist mit ihm passiert?«
»Er ist überfahren worden. Er parkte sein Auto gegenüber dem Wohnblock, in dem er mit seiner Mutter wohnte, und wollte die Straße überqueren. Ein Mercedes kam um die Ecke und überfuhr ihn.«
»Ein unachtsamer Fahrer.«
»Sehr unachtsam. Er hat es fertig gebracht, ihn gleich zweimal zu überfahren. Und ist dann davongebraust.«
»So etwas wirkt abschreckend.«
»Und nachhaltig. Selbst aus dem Exil kann er in Belgrad einen Mord in Auftrag geben.«
»Kennen Sie die Adresse der Mutter?«
»Warten Sie. Wir haben einen Kranz geschickt. Wahrscheinlich direkt in die Wohnung.«
Er fand sie und verabschiedete sich von dem Besucher.
»Eine letzte Frage«, sagte Dexter. »Wann war das?«
»Vor sechs Monaten. Kurz nach Neujahr. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Mr. Barnes, schreiben Sie lieber über Arkan. Der ist tot und kann niemandem mehr schaden. Lassen Sie die Finger von Zilić. Er wird Sie umbringen. Ich muss los, wir drucken heute.«
Die Adresse lautete Block 33, Novi Beograd. Er kannte Novi Beograd oder Neu-Belgrad von dem Stadtplan, den er sich im Buchladen des Hotels besorgt hatte. Es war derselbe ziemlich triste Stadtteil, in dem auch das Hotel stand, eingerahmt von den Flüssen Save und Donau, wobei Letztere alles andere als blau war.
In der kommunistischen Ära hatte man mit Vorliebe hohe Wohnblocks für die Werktätigen gebaut. Sie waren auf freien Grundstücken in Novi Beograd hochgezogen worden, riesige Bienenstöcke aus Gießbeton. In jeder Wabe befand sich eine winzige Wohnung, und die Tür führte auf einen langen, auf einer Seite offenen Gang hinaus, der Wind und Wetter ausgesetzt war.
Manche waren besser erhalten als andere. Das hing von der Höhe des Einkommens der Bewohner und somit vom Grad der Instandhaltung ab. Block 23 war ein kakerlakenverseuchter Horror. Frau Petrović wohnte im neunten Stock, und der Aufzug war außer Betrieb. Dexter hätte die Treppe nehmen können, fragte sich aber, wie sich ältere Bewohner behalfen, zumal offenbar alle Kettenraucher waren.
Es hatte wenig Sinn, allein hinaufzugehen und mit ihr zu reden. Wahrscheinlich sprach sie kein Englisch, und er konnte
kein Serbokroatisch. So bat er eines der hübschen, klugen Mädchen an der Hotelrezeption, ihm zu helfen. Sie sparte auf ihre Hochzeit, und zweihundert Dollar für eine Stunde Mehrarbeit nach Feierabend waren mehr als akzeptabel.
Sie trafen um sieben ein, gerade noch rechtzeitig, denn Frau Petrović arbeitete als Reinemachfrau und ging jeden Abend um acht aus dem Haus, um in der Nacht auf der anderen Seite des Flusses Büros zu putzen.
Sie gehörte zu den vom Schicksal geschlagenen Menschen, und ihr zerfurchtes und ausgezehrtes Gesicht sprach Bände. Sie wirkte wie eine Mittvierzigerin, die auf die Siebzig
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