Der raetselhafte Kunstraub
Musikkapellen der Feuerwehr und des Schützenvereins.
Quer durch den Sitzungssaal hatten die Dekorateure des Stadttheaters noch in der Nacht einen riesengroßen Vorhang aus weißem Nessel gespannt. Dadurch blieb etwa ein Drittel des Raumes abgesperrt.
Hinter dem weißen Nesselvorhang warteten natürlich die Kunstwerke, die zum Wettbewerb eingegangen waren. Ihre Enthüllung sollte die große Überraschung der Eröffnungsfeier sein.
Punkt siebzehn Uhr kam zuerst Beethoven an die Reihe. Das städtische Kammerorchester hatte ihn wochenlang geübt und spielte ihn beinahe fehlerlos.
Anschließend wurde geredet.
Die Bad Rittershuder Nachrichten hatten ein genaues und ausführliches Programm abgedruckt. Das Publikum konnte sich also nicht damit herausreden, daß es nicht geahnt hätte, was ihm alles bevorstand.
Zuerst sprach der Regierungspräsident und dann ein Vertreter des Landtags. Anschließend ergriff der Vorsitzende des Deutschen Städtebundes das Wort, der dann von einem Herrn aus dem Kultusministerium abgelöst wurde.
Anschließend sang ein gemischter Chor die vier Strophen von „Wer hat dich, du grüner Wald“.
Als die letzten Töne des Liedes leise ausklangen, kletterte der Bürgermeister hinter das blumengeschmückte Rednerpult. „Sehr verehrte Ehrengäste, liebe Bürger von Bad Rittershude ...“
In den Korridoren und auf dem Rathausplatz war das Stadtoberhaupt gleich doppelt zu hören. Das kam daher, daß seine Stimme in den Lautsprechern ein Echo hatte wie ein Alphorn im Zillertal.
Der Bürgermeister sprach genau sechzehn Minuten lang. Er brach damit den bisherigen Rekord des Regierungspräsidenten um glatte vier Minuten.
Nachdem er ein paarmal versichert hatte, wie glücklich er darüber sei, daß der heutige Tag endlich angebrochen war, bat er zum Schluß den Vorsitzenden des Kunstvereins, das Wort zu ergreifen.
Um dieser Aufforderung nachzukommen, erhob sich Studienrat Dr. Purzer und wanderte zu dem Podium hinüber. Er hatte in der vorderen Stuhlreihe gesessen, die für die Ehrengäste reserviert war. Die beiden Redner begegneten sich auf halbem Wege und lächelten sich zu. Dann setzte sich der Bürgermeister auf den frei gewordenen Stuhl. Die Sitzgelegenheiten waren knapp.
„Aha, jetzt kommt’s“, flüsterte Herr Hugendubel seiner Frau ins Ohr. Der Schokoladenfabrikant hatte einen besonders guten Platz gleich in der zweiten Reihe hinter dem Herrn vom Kultusministerium. Etwas weiter zurück saß Oberstudiendirektor Senftleben neben seinem Kollegen von der Maximilianschule.
Fünf Stühle, die etwas abseits standen, waren von der Presse belegt. Es handelte sich um Herren aus der Landeshauptstadt und um zwei Vertreter von Nachrichtenbüros. Mitten zwischen ihnen saß Hauptschriftleiter Kubatz. Er hatte ein Bandgerät auf den Knien und ein Mikrofon in der Hand. So mußte er nicht jedes Wort, das geredet wurde, mitschreiben.
Studienrat Dr. Purzer berichtete zuerst, wie es überhaupt zu dem Kunst-Wettbewerb der Stadt Rittershude gekommen war, und erklärte anschließend die Aufgabe, die man den Künstlern gestellt hatte. Dabei mußte er notgedrungen wieder einmal die Geschichte erzählen, die vor genau tausend Jahren angeblich den großen Kaiser Otto zur Gründung der Stadt veranlaßt hatte.
Danach machte Studienrat Dr. Purzer eine kleine Pause. „Ich komme zum Schluß“, sagte er dann. „Es ist jetzt in Ihre Hände gegeben, Bürgerinnen und Bürger von Bad Rittershude“, er dämpfte seine Stimme, als würde er ein Geheimnis verraten, „zu entscheiden, welches Werk den ersten Preis erhält und damit in Zukunft diesen Rathaussaal schmücken soll. Alle Einwohner mit dem vollendeten achtzehnten Lebensjahr haben per Post vom Bürgermeisteramt ihre gelbe Stimmkarte erhalten. Sie haben eine ganze Woche Zeit, sich zu entscheiden. Schreiben Sie dann einfach die Zahl, mit der das Kunstwerk Ihrer Wahl gekennzeichnet ist, auf Ihre Karte. Und diese Karte werfen Sie dann in eine der drei Wahlurnen, die hier im Saale stehen!“
Die ganze Versammlung applaudierte. Und das wirkte ansteckend. Man klatschte auch vor dem Rathausplatz in die Hände, auf den Treppen und in den Korridoren.
Studienrat Dr. Purzer verneigte sich höflich und wechselte seinen Platz wieder mit dem Bürgermeister.
Das städtische Kammerorchester spielte jetzt einen Tusch.
Endlich war es soweit.
Polizeimeister Kalender setzte sich seine Mütze auf. Er zog die weißen Handschuhe stramm und griff nach der roten Kordel, die den
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