Der Ramses-Code
alle anderen, auch Sacy und Quatremère, weit hinter sich gelassen. Sacy würdigte das Buch keines öffentlichen Wortes.
»Was für ein kluger Fuchs«, sagte Marquis de Fontanes leise zu sich, als er die Zeitungsartikel las, »aber ich werde dich schon kleinkriegen, Bursche.«
35
Für den Abend hatte Thomas Young seinen alten Studienfreund Hudson Gurney zum Tee eingeladen. Dieser (es handelte sich um den hochgewachsenen Herrn, der auf der Rennbahn das entscheidende Wort zugunsten des Wettangebots gesprochen hatte), Antiquar und Autor kunstgeschichtlicher Abhandlungen, war nicht nur enger Vertrauter, sondern zugleich ein Bewunderer Youngs, den er für eines der letzten Universalgenies und den legitimen Nachfolger Sir Isaac Newtons hielt. Da er wußte, daß sein brillanter Freund sich seit Sommeranfang an den altägyptischen Inschriften der Rosette-Stele versuchte, war er sehr gespannt, was der soeben nach London Zurückgekehrte an Resultaten mitgebracht hatte – denn daß die Einladung in irgendeinem Zusammenhang damit stehen mußte, daran hegte er keinen Zweifel.
Tatsächlich kam Young, für den Privatleben und Forschung nahezu identisch waren, ohne große Umschweife auf seine Sommerbeschäftigung zu sprechen.
»Wie dich sicherlich interessieren wird«, sagte er, »bin ich dem Stein zu Leibe gerückt. Es war auch dieses Jahr das alte Lied: kaum Patienten, dafür viele wissenschaftliche Erkenntnisse. Erinnerst du dich noch, wie ich in Withworth den Astigmatismus des menschlichen Auges entdeckte? Vermutlich ist dieser Ort wie geschaffen für Eingebungen, und ich sollte dankbar sein, daß mich die Kranken in Ruhe lassen. Wie auch immer, ich habe dort meine mutmaßliche Übersetzung der demotischen Inschrift des Rosetta-Steins abgeschlossenund gedenke, sie demnächst im ›Museum Criticum‹ zu publizieren.«
Young genoß es, seinen Freund staunen zu sehen, und natürlich staunte Gurney auch diesmal.
»Ich bin zunächst einmal sprachlos«, sagte er, beeilte sich aber hinzuzufügen: »Und die Hieroglyphen? Um die ging es ja in der Wette – bist du mit ihnen auch vorangekommen?«
Der Physiker lächelte spöttisch. »Da verkünde ich dir, daß ich in wenigen Wochen eine Nuß geknackt habe, an der sich Sacy, Åkerblad, und wer weiß noch alles, seit Jahren die Zähne ausbeißen, und du hast nichts Besseres zu tun, als mich nach den Hieroglyphen zu fragen.«
»Verzeih, mein Bester, du hast mich eben zu sehr mit Erfolgsmeldungen verwöhnt«, entgegnete der Antiquar. »Erzähl mir bitte: Was hat es auf sich mit der Übersetzung?«
»Ach, es interessiert dich ja gar nicht«, maulte Young und nippte an seinem Tee. »Aber eines sollst du wissen: Wäre der Hieroglyphenteil so vollständig wie der demotische, könnte ich ihn ebenso wie diesen lesen …«
»Du kannst den demotischen Text richtig lesen?«
»Nun, da müssen wir ein bißchen differenzieren. Ich habe zumindest herausgefunden, und zwar unwiderleglich, daß das Demotische nicht, wie Åkerblad glaubt, auf ein Alphabet gründet. Ich habe den Eindruck, Demotisch und Hieroglyphisch beruhen auf ähnlichen Prinzipien.«
»Den Eindruck, sagst du? Ich denke, du hast es übersetzt?«
»Ich habe nachgewiesen, in welchem demotischen Textteil die entsprechende griechische Passage steht. Das ist der Inhalt der ›Mutmaßlichen Übersetzung‹. Hinter das Prinzip der demotischen Schrift bin ich noch nicht gekommen.«
Auf Gurneys Gesicht malte sich ein Anflug von Enttäuschung.
»Mein Gott, ich bin kein Zauberer, Hudson!«
»Doch, du bist einer. Und ich glaube, du verheimlichst mir noch etwas. Ich kenne dich, so, wie du dreinschaust, ist dir ein großer Wurf gelungen. Liege ich richtig?«
»Wie schaue ich denn?«
»Siegessicher.«
»Das bin ich immer. Aber du hast recht, es gibt noch etwas, das über die ›Mutmaßliche Übersetzung‹ hinausreicht. Wenn du bitte einen der Leuchter nehmen und mir an den Schreibtisch folgen würdest.«
Der Hausherr griff selbst nach einem der Kerzenständer, und im Schein der Lichter sah Gurney, daß der Arbeitstisch, auf dem auch einige Bände der ›Description de l’Egypte‹ aufgeschlagen lagen, mit Blättern übersät war, auf denen sich Hieroglyphen-Skizzen von Youngs Hand befanden. Der Professor kramte darin und zog schließlich die Kopie eines Kupferstichs hervor.
»Das ist die hieroglyphische Inschrift eines Obelisken, der seit Jahrhunderten in Rom steht. Es handelt sich um den sogenannten Pamphilischen Obelisken, und
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