Der Ramses-Code
was ein gelehrter und vielsprachiger Mensch über Geschichte und Geographie dieses Landes wissen kann. Nur über die Schrift weiß er nichts. Vielleicht beschäftigt er sich gar nicht damit.«
»Das wird ja jetzt auch überflüssig sein, wo Sie doch das Rätsel gelöst haben«, erklärte Ravenglass, wieder auf den eigentlichen Grund seines Besuches hinlenkend. »Und nun zeigen Sie mir endlich, was Sie über die Hieroglyphen herausgefunden haben. Ich sterbe fast vor Neugier. Statt dessen reden wir die ganze Zeit über dieses langweilige Demotische.«
Der Professor runzelte die Stirn, verkniff sich aber eine Antwort. Er dachte an die 1000 Pfund, holte seine Kladden und erläuterte dem staunenden Baron die Lesung der Namen Ptolemaios, Berenike und Arsinoë. Dann zeigte er ihm die Tabelle der Hieroglyphen, denen er auf diesem Weg einen Lautwert zugeordnet hatte, und setzte seinem Gast auseinander, wie die Ägypter seiner Meinung nach Zahlworte und die Mehrzahl von Gegenständen dargestellt hätten.
»Mit der Mehrzahl«, erklärte er, »hielten sie es offenbar wie die Chinesen. Die schreiben beispielsweisefür Baum undfür Wald. Die vielen Häufungen identischer Zeichen im Hieroglyphen-Text des Rosette-Steins führten mich zu dem Schluß, daß es sich nur um Mehrzahlbegriffe handeln kann. Das bestätigt mich in meiner Ansicht: Sie schrieben innerhalb der Königsnamenringe lautlich, außerhalb derselben bildschriftlich. Wie ich durch Auszählen der Worte ermittelt habe, bedeutet die HieroglypheGott. Ich nehme an, sie stellt eine Fahne dar; vielleicht standen vor ihren Tempeln große Fahnenmasten. Die Mehrzahl, also Götter, schrieben sie so:
Die Namenskartusche der Berenike endet mit den Zeichen, was meiner Meinung nach anzeigt, daß es sich um einen weiblichen Namen handelt. Demzufolge bedeutet die Zeichengruppenichts anderes als: Göttin. Die ägyptischen Ziffern wiederum ähneln den römischen: Ein Strich bedeutet 1, zwei Striche 2 und so fort bis 9,bedeutet 10,bedeutet 100, undsteht für 1000.«
Ravenglass hörte staunend zu, strahlte über das ganze Gesicht, und beinahe hätte er Young freundschaftlich in die Rippen geboxt. »Sie sind ein Genie, Professor, England wird stolz auf Sie sein!« rief er. »Sie haben die Wette gewonnen, ich gratuliere Ihnen.« Ohne Umschweife stellte er dem Physiker einen persönlichen Wechsel aus, wedelte mit dem Papier in der Luft, damit die Tinte trockne, und sagte: »Ich sehe mit Freude, daß das Ägypten-Fieber nun auch Sie erfaßt hat. Wenn ich mich in Ihrem Arbeitszimmer umschaue, kann ich mich eines Schmunzelns nicht erwehren: Das ist nicht mehr das Refugium eines Naturwissenschaftlers, sondern das eines Altertumsforschers. Was ist das dort beispielsweise für ein Papyrus?«
Der Professor reichte ihn dem Baron. »Immerhin sehen Sie auf den ersten Blick«, sagte er, »worum es sich handelt. Das ist tatsächlich ein Papyrus. Er stammt aus Luxor und wurde dort in einem Mumienkasten gefunden. Ein Freund hat ihn gekauft und mir geschenkt.«
»Ach, das ist ja wieder Demotisch«, maulte Ravenglass, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. »Aber der Reiz, solch ein altes Stück in der Hand zu halten, ist schon enorm. Er stammt aus einem Grab, sagen Sie?«
Young nickte. »Ich hoffe«, sagte er, »daß ich in nächster Zeit mehr solcher Originale in die Hände bekomme, möglichst auch hieroglyphische. Ich weiß nicht, ob die Stiche der französischen Ägyptenkommission hundertprozentig exakt sind. Originale sind mir jedenfalls willkommener. Ich sammle jetzt sämtliche Königsnamenringe, die mir unter die Augen kommen, und will versuchen, mein Hieroglyphenalphabet zu komplettieren und möglichst viele Namen zu lesen. Was die Entzifferung der anderen Inschriften betrifft, würde der Fund weiterer Bilinguen – also mit Paralleltexten in uns bekannten Sprachen wie auf dem Rosette-Stein – meine Arbeit gewiß vorantreiben.«
»Machen Sie weiter, Professor, ich bin begierig zu erfahren, was auf den Tempelwänden und Obelisken geschrieben steht«, erklärte Ravenglass mit Emphase. »Ich werde in nächster Zeit Unmengen ägyptischer Altertümer nach London bringen lassen, und alles wird zu Ihrer Verfügung stehen. Die Entzifferung der Namen ist ja nur der Anfang. Den neuen Generalkonsul in Ägypten werde ich genau instruieren. Das Reich der Pharaonen wird in England wiedererstehen!«
Als er das Wort »Wiedererstehen« aussprach, fiel ihm Napoleon ein, und seine soeben noch
Weitere Kostenlose Bücher