Der Ramses-Code
plötzlich Tränen in die Augen. Er weinte nahezu lautlos und brabbelte dazu sinnlose Wortfetzen, ließ sich allerdings willig an den Armen fassen und ins Haus geleiten. Die Söhne zogen ihm einen Mantel über, setzten ihn auf einen Stuhl, gaben ihm Kaffee zu trinken, und nachdem der Alte sich augenscheinlich beruhigt hatte, fuhren sie fort, Ordnung zu schaffen.
Es dauerte zwei volle Tage, bis die Brüder das Haus so weit wiederhergestellt hatten, daß sich darin wohnen ließ. Ihr Vater verbrachte die gesamte Zeit schweigsam und regungslos im Stuhl oder im Bett. Die einzige Ausnahme, bei der er das Wort an sie richtete, bestand in seiner wiederholten Forderung nach Wein oder Branntwein. Jacques-Joseph verweigerte ihm beides; später milderte er das Verbot in einen Tausch: Wenn der Vater sich bereit erklärte, etwas zu essen, erhielt er danach ein Glas Glühwein zur Belohnung.
Die Bewohner Figeacs mieden das alte Haus am Ende der Rue de la Bodousquerie seit Jahren, genaugenommen seit dem Tod der Buchhändlersgattin und der Heirat der jüngsten Champollion-Tochter. Der einsame alte Säufer, der Buchladen und Obstgärten hatte verkaufen müssen, war ihnen unheimlich. Unter den Kindern kursierten Spuk- und Gespenstergeschichten über das stets mangelhaft beleuchtete, auch bei Tage düstere Gemäuer. Nun wohnten dort also, wie sich schnell herumgesprochen hatte, zwei Hochverräter. Wenn die Brüder im Ort auftauchten, tuschelten die Leute und wichen ihrem Blick aus. Nur die Gendarmen behielten die beiden im Auge. Der Zweck der Verbannung, die Isolation der betreffenden Personen vom öffentlichen Leben des Landes, schien sich bestens zu erfüllen: In Figaec war man ohnehin von fast allen Nachrichtenströmen abgeschnitten, und innerhalb dieser Abgeschiedenheit lebten die Champollions noch einmal extra unter Quarantäne.
Was war geschehen?
Nach Napoleons Rückkehr hatten Engländer, Preußen, Österreicher und Russen ihre Heere mobilisiert, und der Kaiser, wie stets weit entfernt davon, dem Feind die strategische Initiative zu überlassen, hatte seine Armee sofort in Bewegung gesetzt. Sein Marschall Murat, damals noch König von Neapel, sollte die Südflanke decken, während das Hauptheer nach Brabant marschierte, um die dort stehenden Engländer anzugreifen, bevor sie sich mit den Preußen vereinigen konnten. Wie das gesamte Land warteten die Grenobler voller Spannung auf den Ausgang des Feldzuges. Jean-François verfaßte pronapoleonische Leitartikel für das ihm unterstellte Departementsblatt, das zweimal wöchentlich erschien.
Anfang Mai war die Nachricht eingetroffen, Murat sei in Oberitalien geschlagen worden, die Südflanke liege schutzlos, und der Feind sammle sich in Massen, um gegen Südfrankreich und damit auch gegen Grenoble vorzurücken. Am 25. Juni machte der Name eines Dorfes südlich von Brüssel die Runde: Waterloo. Auf Anschlägen an den Straßenecken stand die Schreckensmeldung zu lesen, daß Napoleon geschlagen war und sich auf dem Rückzug befand, verfolgt von einem übermächtigen Feind. Grenoble besaß keine Garnison mehr, rüstete aber trotzdem zur Verteidigung. »Frankreich wird keine Schwäche zeigen und nicht schwanken zwischen Erniedrigung und nationaler Ehre, zwischen Freiheit und dem Joch der Fremdherrschaft«, schrieb Jean-François im Departementsblatt.
Anfang Juli traf Jacques-Joseph wieder in Grenoble ein: übernächtigt, bleich und in Weltuntergangsstimmung. Am 6. Juli griffen Österreicher und Piemontesen in der Frühe die Stadt an. Die Brüder befanden sich seit vier Uhr auf den Wällen und taten ihren Teil dazu, daß der Sturm zurückgeschlagen wurde und der Feind mehr als tausend Tote und Verwundete zu verzeichnen hatte. Erbittert über den unerwartet heftigen Widerstand, ließ der österreichische Kommandeur Grenoble unter Artilleriefeuer nehmen.
Als die ersten Geschosse in der Innenstadt einschlugen und auch die Bibliothek einen Treffer erhielt, vergaß Jean-François Napoleon und die Vaterlandsverteidigung; er eiltewie von Sinnen in die Stadt und raffte alte Originalmanuskripte und wertvolle Bücher zusammen, um sie vor der Vernichtung zu retten. Da die Zerstörung ihrer Stadt drohte, schritten die Bewohner zur Übergabe. Auf der Spitze des Forts Rabot hißten königstreue Einwohner oder Opportunisten das Lilienbanner der Bourbonen. Grenoble kapitulierte und öffnete die Tore. Die Geschichte wiederholte sich.
Am nächsten Morgen wehte wieder die Trikolore über der Zitadelle.
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