Der Ramses-Code
überlaufen wie unser Grenoble. Sie werden ihm zu Füßen fallen.«
Jacques-Joseph hatte sich in Rage gerdet. »Was wir gerade erleben, mein Lieber«, fuhr er fort, »das hätten deine Ägypter für wert befunden, auf Obeliske zu meißeln und auf Tempelwänden zu verewigen. Wir sind Zeugen eines der grandiosesten Ereignisse in der Weltgeschichte: Ein Mann versucht, mit der Kraft seines Willens und der Magie seiner Ausstrahlung ein Königreich zu erobern!«
»Ich hoffe von ganzem Herzen, daß es ihm gelingen möge und daß er sich dann noch an meine koptische Grammatik erinnert«, entgegnete Jean-François mit tiefem Ernst.
Kurz bevor er aus Grenoble schied, hatte Napoleon Jacques-Joseph mehrere Aufträge administrativer Natur erteilt und ihn aufgefordert, ihm nach deren Erledigung nach Paris zu folgen. Der Befehl mutete überkühn an, erwies sich jedoch als prophetisch: Stadt auf Stadt und Garnison auf Garnison ging mit fliegenden Fahnen zu Napoleon über. Am 10. März öffnete ihm Lyon kampflos die Tore, und in Paris machte sich Panik breit. Als letzte Trumpfkarte schickten die Bourbonen Napoleons ehemaligen Marschall Ney, der sich 1814 für die Abdankung des Kaisers eingesetzt hatte, gegen den Eroberer – doch dessen Soldaten meuterten, und schließlich unterwarf sich auch Ney. Daraufhin ergriff der gesamte königliche Hof die Flucht. Am 20. März zog Napoleon in die Hauptstadt ein, und Paris bereitete dem Kaiser einen triumphalen Empfang.
Ohne einen Schuß abzugeben, hatte Napoleon ein Königreich erobert. Jean-François kommentierte die Ereignisse im Departementsblatt, und er fühlte sich wie der Schreiber, der beauftragt ist, die Taten von Pharao Ramses für die Nachwelt festzuhalten.
Ende März folgte Jacques-Joseph dem Kaiser in die Hauptstadt.
37
Ravenglass wußte nicht, ob er frohlocken oder fluchen sollte, als er die Post las. Die Zeitungen meldeten, daß Napoleon von Elba geflohen war und mit einer durch Scharen von Überläufern immer stärker werdenden Armee gegen Paris vorrückte. Zugleich schrieb Professor Young, es sei ihm gelungen, die ersten Hieroglyphen zu entziffern, und lud ihn zu einer Demonstration seiner Erkenntnisse ein. Die Verschränkung von Hiobsbotschaft und Freudennachricht verwirrte ihn. Ravenglass läutete nach seinem Butler und befahl, anspannen zu lassen: »Ich muß sofort nach London!«
Es würde wohl wieder Krieg mit Frankreich geben; König Ludwig war ein alter Narr, der dem Korsen nichts entgegenzusetzen hatte, schon gar nicht, wenn dieser bereits wieder über Regimenter verfügte. Mit einigen tausend Mann hatte Napoleon schon ganz andere Dinge fertiggebracht, als eine ohnehin wurmstichige Bourbonendynastie auszuhebeln. Begann alles wieder von vorn?
Ravenglass dachte an seine Ägypten-Pläne, die allmählich Gestalt anzunehmen begannen. In nächster Zeit würde England einen neuen Generalkonsul nach Kairo entsenden, einen intelligenten und gebildeten jungen Diplomaten namens Henry Salt, der seinem Amtsvorgänger gegenüber den entscheidenden Vorzug besaß, sich für Altertümer zu interessieren. Mit Salts Hilfe konnte man beginnen, die Schätze des Nillandes systematisch aufzuspüren und nach England zu bringen. Es wurde höchste Zeit, denn inzwischen suchten zahlreiche Abenteurer und Gelegenheitsarchäologen im Wüstensand nach lukrativen Artefakten; europaweit sandten Museen ihre Emissäre aus, und Muhammad Ali, Ägyptens Herrscher, ließ jeden graben und Antiquitätenhandel treiben, der ordentlich dafür bezahlte. Wir hätten unsere Truppen nicht abziehen dürfen, dachte Ravenglass. Noch mehr ärgerte ihn, daß Napoleons Rückkehr die Situation verkomplizierte. Wenn England Frankreich den Krieg erklärte, würde das Militär möglicherweise die Transport- und Geleitschiffe benötigen.
Ravenglass sah mißmutig aus dem Fenster, doch der Gedanke an Youngs Nachricht hellte sein Gesicht wieder auf. Ich hatte doch recht, triumphierte er, dieser Teufelskerl hat tatsächlich die ersten Hieroglyphen entziffert. Dreizehn Jahre lag der Rosette-Stein inzwischen in London, alle hatten sich die Zähne an ihm ausgebissen, und Young brauchte nur ein paar Monate, um den Code zu knacken. Vor einigen Wochen hatte ihm der Naturwissenschaftler die »Mutmaßliche Übersetzung« zugeschickt, mit der Ravenglass jedoch nicht viel anzufangen wußte – wenngleich ihm imponierte, daß Young imstande war, den demotischen Zeichenwirrwar in einzelne Teile aufzulösen und diesen griechische
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