Der Ramses-Code
Kräften, befreite ihn aber von Verkrampfungszuständen und Trugbildern, die ihn zuvor heimgesucht hatten. Wie er nun da so saß, fiel Jacques-Joseph die merkwürdige Schieflage seines Körpers auf. Außerdem war sein Unterkiefer heruntergeklappt. Die Brüder unterbrachen ihr Gespräch, um ihn aufzurichten. Der Körper fühlte sich kalt an und sackte sofort wieder in sich zusammen.
Jacques Champollion war tot. Er war während ihrer Unterhaltung wortlos und ohne jede äußere Regung gestorben.
Die Brüder beerdigten ihren Vater auf dem Friedhof neben der kleinen Bergkirche, in der sie beide einst getauft worden waren. Mit Ausnahme des Pfarrers und des Totengräbers gab niemand Jacques Champollion das letzte Geleit.
39
Ravenglass saß im »King’s Horse«, einem verschwiegenen Lokal im noblen Londoner Stadtbezirk Temple, und wartete auf Henry Salt. Er hatte ihn bei einem Empfang im ForeignOffice anläßlich seiner Ernennung zum englischen Konsul in Ägypten kennengelernt und für diesen Abend zum Essen eingeladen. Pünktlich um 18 Uhr erschien der designierte Konsul.
Henry Salt war ein vornehmer, sehr jugendlich aussehender Mann von 35 Jahren. Er stammte aus einer Diplomatenfamilie, hatte ursprünglich Porträt- und Landschaftsmalerei an der Royal Academy in London studiert, danach zahlreiche Bildungsreisen unternommen und stand nun im Begriffe, die berufliche Tradition seiner Familie fortzusetzen. Seine zarte Konstitution und das bläßlich-knabenhafte Gesicht ließen auf eine heikle Gesundheit schließen, und Ravenglass war, als er ihn zum ersten Mal sah, etwas bestürzt gewesen, daß ausgerechnet dieses »Jüngelchen« – so lautete sein irritierter Eindruck – mit dem wichtigen Posten in Ägypten betraut werden sollte. Immerhin galten Klima, hygienische Zustände und Sitten am Nil als hinreichend extrem, um einen schwächlichen Europäer in Kürze dahinzuraffen. Dann aber war dem Baron eingefallen, daß Salt das Nilland ja schon bereist hatte, sogar bis hinab nach Äthiopien, und daß er ebenfalls längere Zeit in Indien war.
»Es freut mich, Sir, daß wir endlich einmal Zeit füreinander finden«, begann Ravenglass, nachdem sein Gast sich gesetzt hatte und ein Aperitif auf dem Tisch stand. »Wie ich Ihnen schon schrieb, verbindet mich eine spezielle Neigung mit Ihrer künftigen Wirkungsstätte, und ich bin vor allem deswegen guter Dinge angesichts Ihrer Ernennung, weil Ihnen der Ruf vorauseilt, daß Sie ein Freund und Bewunderer der altägyptischen Kultur sind.«
»So stimmt der Ruf ja abwechslungshalber einmal mit den Tatsachen überein«, sagte Salt.
»Wie schön. Dann sind Sie sicherlich auch der Ansicht, daß gerade England etwas tun sollte für die Erhaltung und Erforschung dieser Kultur.«
»Voll und ganz.«
Dem Baron fiel auf, daß sein Gegenüber seit dem Betreten des Lokals keine Miene verzogen hatte. Wie ein Orientale, dachte er; das wird ihm bei den Verhandlungen mit diesen Turbanköpfen zugute kommen.
»Wenngleich ich mich nicht solch abenteuerlicher Ägypten-Wetten rühmen kann wie Sie«, fügte Salt hinzu, und nun flog ein kurzes Lächeln über sein Antlitz.
»Sie haben davon gehört?« fragte der Baron etwas erstaunt.
»In sämtlichen Clubs spricht man davon. Sie haben damit mehr für die Verbreitung unserer Passion getan, als es die ›Times‹ mit einer Artikelserie hätte tun können. Wie ich hörte, hat Professor Young das allgemeine Gerede über seinen Entzifferungserfolg nun sogar zum Anlaß genommen, seine Erkentnisse gesondert zu publizieren und nicht erst auf die Fertigstellung der Encyclopaedia Britannica zu warten. Der Erwartungsdruck war wohl zu hoch.«
»Mir soll es nur recht sein«, erwiderte Ravenglass. »Ich habe als erster erfahren, wie man die heiligen Zeichen der Ägypter liest, aber erst, wenn es gedruckt wurde, ist das Ereignis auch in der Welt. Immerhin sorge ich mich seit 15 Jahren darum, daß ein Engländer die Hieroglyphen entziffert. Lassen Sie uns auf Thomas Young und seine historische Tat anstoßen!«
Ravenglass speiste mit gutem Appetit und sprach ausgiebig dem Wein zu (es war übrigens ein Franzose), während sein Gegenüber mit zierlichen Bewegungen das Fleisch zerteilte und in derselben Zeitspanne, in welcher der Alte sein Glas leerte, zweimal an dem seinen nippte. Der Baron bemerkte es nicht; es hätte wohl wieder seinen Zweifel genährt, ob das »Jüngelchen« tauglich sei für die ihm zugedachte Rolle als Ravenglass’scher Brückenkopf in
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