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Der Ramses-Code

Der Ramses-Code

Titel: Der Ramses-Code Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Klonovsky
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fehlen, und mehrere Hieroglyphen können für denselben Buchstaben verwendet werden, was sich daran zeigte, daß sowohlals auchfür T standen. Der Rest war, aus der Perspektive der Schreiber, Improvisation – aus der des Entzifferers: Instinkt.
    Den besaß Thomas Young anscheinend nicht. Seine Lesung des Namens der Königin Berenike war jedenfalls falsch. Jean-François zeichnete die Kartusche auf und setzte seine bereits gewonnenen Lautwerte darunter.

    – R–IKAT –.bedeutete zweifellos B,mußte für N stehen. BRNIKAT. Berenikat. Die beiden letzten Zeichen waren identisch mit denen am Ende des Namens Kleopatra. Wie Young vertrat er die Ansicht, daß sie eine Feminin-Endung verkörperten, also das weibliche Geschlecht des Wortes markierten. Bezog man sie nicht mit ein, hieß der Name Brnik. Das E fehlte hier komplett, allen anderen Lauten entsprach eine Hieroglyphe. Offenkundig lag Young wenigstens mit der Endung richtig, wobei unklar war, wie er darauf kam. Er mußte es schlichtweg erraten haben.
    Jean-François merkte nicht, wie die Zeit verging und daß immer noch das Fenster offenstand. Eine wilde Euphorie hatte ihn ergriffen. Er malte einen anderen Namensring auf, den er ebenfalls schon lange kannte und an dessen Anfang, wie bei »Autokrator«, der Geier stand.

    Der Name eines der berühmtesten Herrscher des Altertums begann mit A, und Jean-François zitterte bei der Vorstellung, daß er der erste Mensch seit mehr als anderthalbtausend Jahren sein würde, der diesen Namen in Hieroglyphen las. Er setzte seine Buchstaben ein, das Wellenlinien-N aus Berenike inbegriffen:

    AL–SENTR–. Eine der Kleopatra-Kartuschen enthielt eine leicht abweichende Schreibweise und begann mit dem Zeichen, woraus er folgerte, daß der phonetische Wert dieser Hieroglyphe das K sein mußte – und demnach auch fürdiesen Lautwert mehrere verschiedene Zeichen geschrieben werden konnten. Also ergab sich: ALKSENTR–. Alexandros! Die griechische Form von Alexander. Alexander der Große! Der Beherrscher der halben Welt, Eroberer Ägyptens anno 332 vor Christus. Das Zeichenbedeutete S.
    Aufgeregt lief Jean-François im Zimmer auf und ab. Ich muß aufpassen, daß ich jetzt nicht wirklich verrückt werde, sagte er sich. Immerhin weiß ich noch nicht viel; ich bin nur den Weg gegangen, den Young, bevor er auf den Holzweg kam, eröffnet hat. Freilich hätte ich es auch ohne ihn gefunden. Es war reiner Zufall, daß Young mit seinen Spekulationen die richtige Nase hatte. Kleopatra konnte er nicht lesen, obwohl der Obelisk vor ihm lag. Der Mann hatte Zugriff auf alle Schätze Ägyptens, aber er war blind für sie. Und ich saß währenddessen in Figeac. Was für eine Zeitverschwendung!
    Aber was bedeuteten diese neuen Erkenntnisse? Zuerst einmal nichts weiter, als daß die Ägypter die Namen der Fremdherrscher in der Spätzeit ihres Reiches, Griechen, römische Kaiser, vielleicht auch die Perserkönige, tatsächlich mit Hieroglyphen geschrieben hatten, denen sie einen Buchstabenwert beimaßen. Die Freizügigkeit, mit welcher sie die Hieroglyphen dabei handhabten, schien allerdings darauf hinzudeuten, daß ihre Schrift eigentlich keine Buchstabenschrift war. Oder konnten 50 verschiedene Zeichen beispielsweise T bedeuten? Das ergab keinen Sinn.
    Jean-François begriff, daß er zwar einen gewaltigen Fortschritt gemacht hatte, aber immer noch vor einem verschlossenen Tor stand. Er würde in den folgenden Tagen sämtliche Fremdherrschernamen identifizieren können, von denen Kartuschen vorlagen, und er würde Baudenkmäler der Spätzeit aufgrund der Namensringe in ihren Inschriften zeitlich einordnen können. Tauchten beispielsweise, wie auf dem Tierkreis von Dendera – und auf dem Dendera-Tempel überhaupt –, Kartuschen auf, die den Titel Autokrator enthielten, ließ sich die Errichtung des Tempels in die griechisch-römische Periode datieren. Schwachköpfe wie Jomard, die meinten, der Tierkreis sei 10 000 Jahre alt oder noch älter, waren damit widerlegt. Aber was in größerer Zeitentiefe lag, in derÄra der wirklichen Pharaonen, konnte er nach wie vor trotz seines soeben gewonnenen Hieroglyphen-Alphabets nicht lesen.
    Ein Windstoß fegte herein. Jean-François schloß endlich das Fenster, dabei murmelte er ärgerlich vor sich hin, denn einige Blätter waren von Regentropfen benetzt. Als er vorsichtig eine Stelle abtupfte, blickte er entgeistert auf die Langversion der Ptolemaios-Kartusche.

    Wie habe ich das so lange übersehen können!

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