Der Raritätenladen
das Gerücht verbreitet, das kleine Mädchen, das die Wachsfiguren zu zeigen pflegte, sei das Kind vornehmer Leute, welches von der Wiege weg seinen Eltern gestohlen worden und dem man eben jetzt erst auf die Spur gekommen sei. Die Meinungen, ob ihr Vater ein Prinz, ein Herzog, ein Graf, ein Viscount oder ein Baron wäre, gingen wohl auseinander, aber in dem Hauptpunkte und daß der ledige Herr der Vater sei, stimmten alle überein, und jeder drängte sich heran, um etwas von ihm, wäre es auch nur die Spitze seiner edlen Nase, zu sehen, als er in seiner vierspännigen Kutsche trostlos von hinnen fuhr.
Was würde er dafür gegeben haben und wieviel Kummer und Sorgen wären erspart geblieben, wenn er gewußt hätte, daß in jenem Augenblick Kind und Großvater vor dem alten Kirchenportale saßen und geduldig die Rückkehr des armen Schulmeisters erwarteten!
Achtundvierzigstes Kapitel
Die Gerüchte über den ledigen Herrn und den Zweck seiner Ankunft wanderten von Mund zu Munde und wurden, je weiter sie reichten, nur um so wunderbarer, denn ein Gerücht unterm Volke setzt, entgegen dem ›rollenden Stein‹ im Sprichwort, auf seiner Wanderschaft viel Moos an, so daß sein Anhalten vor dem Wirtshaus als ein aufregendes und anziehendes Schauspiel betrachtet wurde. Es konnte kaum genug bewundert werden und zog einen Haufen Müßiggänger an, die eben erst durch den Schluß des Wachsfigurenkabinetts und die Beendigung der Hochzeitsfeierlichkeiten gewissermaßen brotlos geworden waren und jetzt die Ankunft des Fremden beinahe als eine besondere Fügung der Vorsehung betrachteten und sie mit den lebhaftesten Äußerungen der Freude begrüßten.
Ohne an der allgemeinen Aufregung im geringsten teilzunehmen, sondern mit der gebeugten und entmutigten Miene eines Mannes, der über eine getäuschte Hoffnung in stiller Zurückgezogenheit nachzudenken wünscht, stieg der ledige Herr ab und hob Kits Mutter mit einer traurigen Höflichkeit aus dem Wagen, die auf die Zuschauer einen ungemein tiefen Eindruck machte. Sobald dies geschehen war, bot er ihr den Arm und führte sie in das Haus, während mehrere behende Kellner als Plänkler voraneilten, um den Weg zu lichten und die Gäste in das Zimmer zu führen, welches für ihre Aufnahme bereit war.
»Jedes Zimmer ist recht«, sagte der ledige Herr, »wenn es nur gleich zur Hand ist; weiter verlange ich nichts.«
»Gleich hier, Sir, wenn Sie gefälligst diesen Weg spazieren wollen.«
»Wäre vielleicht dem Herrn dieses Zimmer gefällig?« fragte eine Stimme, während eine kleine Seitentür in der Nähe des
Stiegenhauses rasch aufflog und ein Kopf zum Vorschein kam. »Er ist ganz willkommen hier, so willkommen wie Blumen im Mai oder Kohlen um Weihnachten. Wäre Ihnen dieses Zimmer angenehm, Sir? Erweisen Sie mir die Ehre hereinzuspazieren! Tun Sie mir, bitte, diesen Gefallen!«
»Barmherziger Himmel!« rief Kits Mutter erschreckt zurückfahrend. »Wer hätte auch das gedacht?«
Sie hatte allerdings auch einigen Grund, erstaunt zu sein, denn die Person, welche die huldvolle Einladung erließ, war niemand anders als Daniel Quilp. Die kleine Tür, aus der er seinen Kopf herausstreckte, befand sich dicht neben dem Speiseschrank des Gasthauses, und dort stand er, sich mit grotesker Höflichkeit verbeugend, so ganz ungeniert, als ob es die Tür seines eigenen Hauses wäre – die Hammelkeulen und die gebratenen kalten Vögel durch seine unmittelbare Nachbarschaft vergiftend und wie der böse Genius der Keller aussehend, der aus seinem unterirdischen Reiche heraufgestiegen war, um irgendwelches Unheil zu stiften.
»Wollen Sie mir die Ehre angedeihen lassen?« fragte Quilp.
»Ich ziehe es vor, allein zu sein«, versetzte der ledige Herr.
»Oh!« entgegnete Quilp.
Und damit sprang er mit einem Satz wieder zurück und klappte die kleine Tür hinter sich zu, wie die Figur einer Schwarzwälderuhr, wenn die Stunde schlägt.
»Erst gestern abend noch, Sir«, flüsterte Kits Mutter, »habe ich ihn in Klein-Bethel zurückgelassen.«
»Wirklich?« versetzte ihr Reisegefährte. »Wann kam dieser Mensch hier an, Kellner?«
»Diesen Morgen mit der Nachtpost«, versetzte der Kellner.
»Hm! Und wann geht er?«
»Das kann ich wirklich nicht sagen, Sir. Als ihn das Stubenmädchen eben fragte, ob er über Nacht bliebe, Sir, schnitt er
ihr erst fürchterliche Gesichter, und dann wollte er sie küssen.«
»Ersuchen Sie ihn, daß er zu mir kommt«, sagte der ledige Herr. »Sagen Sie ihm, es würde
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