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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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stehen.«
    »Aber du hattest keinen Grund, an meinen Worten zu zweifeln«, sagte Althea und schlug die Augen nieder.
    »Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst.«
    Sie schüttelte den Kopf. Das schwarze Haar wirbelte locker um ihre Schultern. Ihre Stimme klang jetzt unsagbar traurig, fast verzweifelt. »Ich habe dich belogen, Robert. Es gab keinen Auftrag des Herzogs. Heinrich hat nie erfahren, daß du dich in Hameln aufhältst.«
    Tränen standen jetzt in ihren Augen. »Verstehst du nicht? Ich habe diesen Auftrag erfunden. Ich habe dich nach Hameln geschickt, ohne daß irgend jemand davon wußte.«
    Ich starrte sie an, unfähig, den wahren Sinn ihrer Worte zu begreifen. Kein Auftrag? Keine Mission des Herzogs?
    »Warum sagst du das?« fragte ich und hatte Mühe, meine eigene, heisere Stimme zu hören. »Warum lügst du mich an?«
    »Ich lüge nicht, Robert«, erwiderte sie und umfaßte meine Hand noch fester. »Was ich sage, ist die Wahrheit. Damals habe ich gelogen, heute nicht.«
    »Aber warum?« fragte ich stockend.
    »Um dich aus Braunschweig fortzulocken. Du durftest nicht länger am Hof bleiben.«
    »Das ist doch Unsinn.«
    »Nein, das ist es nicht. Es ist die Wahrheit, Robert. Ich habe dich nach Hameln geschickt, mit diesem angeblich geheimen Auftrag, damit du zu keinem davon sprichst. Du mußtest noch am selben Tag aufbrechen. Ich wollte, daß du so schnell wie möglich verschwindest.«
    Ich spürte, wie meine Wangen zuckten, ganz gegen meinen Willen. »Aber aus welchem Grund?«
    »Du warst in Gefahr. Und nicht nur du. Es hatte Morde gegeben, am Hof und in der Stadt. Kinder waren getötet worden, insgesamt ein halbes Dutzend. Heinrich hat es verheimlicht, um die Ermittlungen seiner Berater nicht zu behindern. Jeder, der davon wußte, wurde zum Schweigen verpflichtet. Sogar die Eltern der Opfer. Und insgeheim suchten Heinrichs Leute nach Spuren, nach einer Fährte, die den Mörder verriet. Tagelang, wochenlang. Dann aber deuteten alle Hinweise in dieselbe Richtung, auf dieselbe Person. Auf einen Ritter des Herzogs. Heinrich verriet es mir, ohne selbst den Namen zu kennen.«
    »Du glaubst, daß ich derjenige –« Die Erschütterung verschlug mir die Sprache.
    »Ja. Ich war vollkommen sicher. In deiner Kammer entdeckte ich blutige Kleidung.«
    »Ich hätte mich verletzt haben können.«
    »Es war nicht deine Kleidung, Robert«, widersprach sie. »Es waren die Hemden und Hosen von Kindern. Und alle durchtränkt von Blut. Sie lagen in einer Kiste unter deinem Bett.«
    Ein Schwindel, schlimmer als jeder zuvor, bemächtigte sich meiner. »Ich weiß nicht, wie sie dorthin gelangten. Ich kenne keine Kinderkleidung, habe sie nie gesehen.«
    Althea nickte ernst. »Und ich glaube dir jedes Wort. Du weißt es nicht, weil du dich nicht daran erinnerst. Du weißt nicht, daß du ein Mörder bist, weil du dich nicht deiner Taten entsinnst. Du mordest, ohne es zu wissen. Nachts, vielleicht im Schlaf, vielleicht auch in einem krankhaften Wahn. Du bist besessen, Robert – wer weiß, wovon.«
    Ich hatte Althea immer vertraut, tat es selbst jetzt noch. Hegten nicht soviele andere den gleichen Verdacht? Der alte Hollbeck. Gunthar von Wetterau. Sogar Liutbirg. Jeder ohne Beziehung zum anderen, verfeindet gar. Und doch waren sie alle überzeugt, daß ich die drei Kinder getötet hatte.
    Und nun noch ein halbes Dutzend mehr.
    Mir wurde übel. Doch alles, was meiner Kehle entstieg, war ein schreckliches Röcheln. Es klang so fremd wie Altheas Enthüllungen.
    »Als ich begriff, wie es um dich stand, da schickte ich dich fort aus Braunschweig«, sprach sie weiter. »Ich konnte dir nicht die Wahrheit sagen. Trotz allem hielt ich noch zu dir. Ich fürchtete, du würdest dir ein Leid antun, wenn du alles erfahren würdest. Und als ich hörte, was in Hameln geschehen war, da glaubte ich, daß du hier vorerst in Sicherheit wärst.«
    Ich begriff, was sie meinte. »Weil es hier keine Kinder mehr gab.«
    »Weil sie alle verschwunden waren«, bestätigte sie und gab sich keine Mühe mehr, ihre Tränen zurückzuhalten.
    Schweigen erfüllte die Kammer, nur von außen drang ungebrochen der gedämpfte Lärm der Menge herein.
    »Wieso aber sollte ich die Kinder ermorden?« fragte ich. »Weshalb hätte ich das tun sollen? Ich kann mich an nichts erinnern.«
    Althea hob langsam die Schultern. Das Haar fiel ihr ins Gesicht. Ihre Augen verschwanden hinter einem schwarzen Vorhang. »Eine Krankheit, vielleicht. Oder Besessenheit.«
    »Vom

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