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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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als den groben Umriß der Person. Sie trug einen weiten Kapuzenmantel. Sie blieb stehen und sagte kein Wort.
    »Wer seid Ihr?« fragte ich unwirsch.
    »Ich bringe Euch den letzten Segen«, antwortete eine weibliche Stimme, laut genug, daß die Wachen vor dem Eingang es hören mußten. Ich erkannte sie sofort.
    »Julia!« flüsterte ich erregt und sprang auf.
    Sie machte zwei schnelle Schritte auf mich zu und legte mir einen Finger an die Lippen.
    »Sei still!« zischte sie. »Sag jetzt nichts. Hör mir einfach nur zu.« Ihr Gesicht war in der Finsternis nicht zu erkennen. Beinahe war es, als umwehe sie stets ein Stück Dunkelheit, um sie vor den Augen anderer zu verhüllen. Ich hatte sie berühren dürfen in jener Nacht im Kloster. Das mußte genügen.
    Ich wollte widersprechen, doch sie kam mir zuvor:
    »Du wirst fliehen, jetzt gleich. Die Wachen glauben, man habe dich zum Tode verurteilt. Ich habe ihnen gesagt, man werde dich bald abholen, und ich sei hier, um dir Absolution zu erteilen.«
    Fliehen! Gerade noch hatte ich jeden Gedanken daran verworfen. Jetzt aber rückte die Möglichkeit in greifbare Nähe. Noch einige Tage in Freiheit, dann selbst entscheiden, ob die Zeit für das Ende gekommen sei. Eine verlockende Aussicht.
    Aber die Kinder. Was war mit den Kindern? Was mochte noch geschehen, wenn ich länger auf freiem Fuß war?
    »Es geht nicht«, flüsterte ich niedergeschlagen.
    »O doch«, entgegnete sie bestimmt. »Du mußt fliehen. Jetzt gleich. Alles weitere wird sich ergeben.«
    Sie zog sich den Kapuzenmantel von den Schultern und hielt ihn mir entgegen. Sie trug ihre Nonnentracht darunter, soviel vermochte ich zu erkennen. Noch immer kein Gesicht.
    »Ich … ich will das nicht«, widersprach ich schwach. Dabei war die Verlockung längst zu groß.
    Julia setzte ihre Schwesternhaube ab und reichte sie mir zusammen mit dem Mantel. »Das müßte als Tarnung ausreichen«, sagte sie leise. »Niemand wird vermuten, daß man versucht, dich zu befreien. Die Wachen werden dir keine große Aufmerksamkeit schenken. Sieh einfach zu Boden und geh an ihnen vorüber. Draußen im Lager herrscht Aufbruchstimmung. Du wirst nicht weiter auffallen.«
    »Und du?« fragte ich zögernd. Dabei war die Entscheidung längst gefallen.
    Ein schwacher Schimmer huschte über ihr kurzgeschorenes Haar, machte aber halt vor ihrer Stirn, als habe sie selbst dem Licht ihren Willen aufgezwungen.
    »Ich bleibe hier«, erwiderte sie fest. »Ich werde behaupten, du hättest mich überwältigt. Niemand wird einer Tochter Gottes mißtrauen.«
    Ich hob die Hand, um ihre Wangen zu streicheln, doch sie trat hastig zurück. »Du mußt gehen.«
    Ich blickte auf die Kleidung in meinen Händen, dann erneut auf sie. Schließlich begann ich wortlos, Haube und Mantel überzuziehen.
    Bevor ich ging, fragte ich leise: »Warum tust du das, Julia? Wer bist du wirklich?«
    Ich hatte keine klare Antwort erwartet, und sie gab mir auch keine. »Ganz gleich, wer ich bin – mein Ziel ist erreicht. Denn bin ich Margarete Gruelhot, so habe ich dich befreit und meinem Vater geschadet. Damit bin ich zufrieden. Bin ich aber in Wahrheit deine Schwester Juliane, so habe ich dich durch die Nacht der Unzucht im Kloster mit Gottes Fluch beladen, womit sich meine Rache erfüllt. Es ist so einfach: Wie du es drehst, ich habe alles erreicht, was es zu erreichen galt. Gleichgültig, wer ich bin und aus wessen Sicht du es betrachtest.« Sie zog sich noch tiefer zurück in die Schatten. »Und nun geh endlich. Wir werden uns nicht wiedersehen.«
    Sie hatte recht. Was immer ihr eigentlicher Plan, ihr wahres Ziel gewesen war, sie hatte den Weg dorthin vollendet. Selbst meine Befreiung war nur Folge der beiden möglichen Pfade, auf die sie mein Schicksal gelenkt hatte.
    Ich drehte mich um und ging. Die Wachen ließen mich anstandslos passieren. Niemand bemerkte, daß sich unter der wallenden Tracht ein anderer befand. Ich durchquerte den äußeren Bereich des Lagers und verließ es ruhigen Schrittes. Als die Zelte hinter mir zurückfielen, da war mir, als hebe sich auch der Vorhang, der sich um meinen Geist geschlossen hatte.
    Ich wußte, daß Heinrich es viel zu eilig hatte, als daß er lange nach mir suchen würde. Ich mußte ein Versteck finden, wo man mich vorläufig nicht vermutete. Und es dauerte nicht lange, da erkannte ich, an wen ich mich wenden mußte.
    ***
    Die Gassen waren wie ausgestorben. Keine Menschenseele begegnete mir auf dem Weg zum Haus des Grafen von

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