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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schwalenberg. Sie alle mußten sich noch auf dem Marktplatz oder aber in ihren Betten befinden. Die Schwesterntracht leistete mir gute Dienste, als ich unerkannt durch die Dunkelheit schritt und beim Grafen mit leisem Klopfen Einlaß begehrte. Niemand antwortete, und mir fiel ein, daß der Statthalter des Herzogs seit einem letzten Flugversuch mit gebrochenen Beinen darniederlag. Ich trat also zur Seitenwand des Gebäudes, vorbei an den blasphemischen Malereien von fliegenden Menschen, und drang kurzerhand durch eines der Fenster ein.
    Von Schwalenberg wohnte allein in dem Haus. Wer hätte mich daran hindern können, seine Schlafkammer aufzusuchen?
    Der alte Mann lag auf einem Lager aus Decken und Fellen, neben sich ein flackerndes Talglicht. Er blickte mir entgegen, als ich eintrat. Er erschrak nicht. Er sah aus, als hätte er mich längst erwartet.
    »Euer Auftrag ist beendet, wie mir scheint«, sagte er krächzend. Seine Stimme klang, als hätte er sie seit Tagen nicht benutzt.
    Ich nahm Haube und Mantel ab und ging neben ihm in die Knie. »Verspottet mich nicht«, sagte ich. »Es gab nie einen Auftrag, und Ihr habt es gewußt.«
    Der Alte lächelte müde. Er trug ein weißes Nachtgewand und hatte die Decke hinauf bis zur Brust gezogen. Sein graues Gesicht wirkte noch eingefallener als bei meinem ersten Besuch. Er hatte Schmerzen, das war deutlich zu erkennen. Er würde sich von dem Sturz nicht mehr erholen, würde nie wieder laufen können. Ich las in seinen Augen, daß er wußte, welches Schicksal ihm bevorstand. Die Menschen ließen ihn in seinem Haus verrotten.
    »Warum seid Ihr nicht mit dem Herzog fortgezogen?« fragte ich.
    »Er war nicht einmal bei mir«, erwiderte er müde. »Weiß Gott, was von Wetterau ihm erzählt hat. Vielleicht daß ich tot bin. Oder schwachsinnig. Für den Herzog existiere ich nicht mehr.«
    »Ihr scheint es ihm nicht zu verübeln.«
    »Ich bin sein gehorsamer Diener. Sein Wille ist auch der meine. Sagt er, ich bin tot, dann bin ich es. Ich habe immer jedem seiner Befehle gehorcht.«
    »Auch jenen in dem Brief, den ich Euch brachte?«
    »Auch jenen«, bestätigte er.
    »Wo habt Ihr ihn?«
    »Verbrannt. Gleich, nachdem Ihr fort wart.«
    »Was stand darin?«
    Von Schwalenberg schloß für einen Moment die Augen, dann lächelte er gequält. »Daß ich Euch keinerlei Hilfe reichen darf. Und daß Ihr krank seid und man Euch für eine Weile nicht am Hof zu sehen wünscht.«
    »Habt Ihr Euch nie nach den Gründen gefragt?«
    »Der Brief stammte nicht vom Herzog selbst, wenn er auch sein Siegel trug und damit weisend für mich war. Aber er war verfaßt in der Handschrift einer Frau. Seiner Gattin, glaubte ich. Ich dachte an ein mißglücktes Schäferstündchen mit Euch, nahm an, daß sie Euch deshalb loswerden wollte. Und, um ehrlich zu sein, mir kam dieses Schreiben ganz gelegen. Das Verschwinden der Kinder war Sache von Wetteraus. Warum also hätte ich Euch helfen sollen?«
    Ich hob die Schultern. »Vielleicht, weil Ihr selbst ein Ritter seid.«
    Er bemühte sich, den Kopf zu schütteln. Sein weißgelbes Haar klebte ihm fettig am Schädel. »Ich war ein Ritter. Ihr selbst habt das gesagt. Und Ihr hattet recht: Unsere Zeit – meine, Eure, die von allen Männern unseres Standes – ist abgelaufen. Die Ritter sterben aus. Es ist vorbei mit uns. Wer schert sich noch um Ruhm, um Anstand? Die Geschichten über uns leben weiter, in den Köpfen der Menschen, im geschriebenen Wort. Aber wir selbst, die lebenden, ahnenden Vorbilder, sind längst ausgerottet. Wir haben es nur noch nicht begriffen.«
    Ich schwieg, deshalb fuhr er fort: »Sie geben Euch noch immer den Ritterschlag und hochfliegende Namen. Aber die Wahrheit ist, daß Ihr alle nur noch Schemen seid, blasse, farblose Schemen, die sich nach dem Willen Eurer Herren ausrichten wie der Schatten nach dem Stand der Sonne.«
    »Ihr seid nur ein alter, gekränkter Mann«, entgegnete ich leise.
    »Natürlich bin ich alt. Und ganz sicher bin ich gekränkt. Aber ich werde hier, in dieser Kammer sterben. Ich kann nicht mehr laufen. Alles, was ich noch kann, ist denken. Ich gehe an meinen eigenen Gedanken zugrunde. Welch ein Schicksal für einen Ritter.« Und dabei lachte er so laut und mißtönend, daß ich mir nichts lieber wünschte, als daß er gleich auf der Stelle verreckte und endlich, endlich Ruhe gab.
    »Ihr seid hergekommen, um Euch bei mir zu verstecken, nicht wahr?« sagte er schließlich.
    »Ja«, erwiderte ich knapp.
    »Ihr müßt mir

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