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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Armen, ein knielanges Hemd und wollene Beinwickel, und sein Gesicht war von Entbehrungen gezeichnet. Dunkles Haar wuchs ihm lang bis über die Schulter.
    Gerade wollte ich ihn ansprechen, als eine Frau am Fenster der nächstliegenden Hütte erschien und den Jungen zu sich rief – nicht, ohne mir zuvor einen Blick voller Mißtrauen zuzuwerfen. Quälend langsam schleppte sich der Kleine zur Tür der Hütte, wo seine Mutter ihn sogleich in Empfang nahm und eilig ins Innere zog.
    Ich stand noch eine Weile lang da und blickte ihm gedankenvertieft hinterher. Dies war das erste Kind, dem ich in Hameln begegnet war. Demnach waren doch nicht alle verschwunden; einige mußten ihrem Schicksal entgangen sein.
    Einen Herzschlag lang war ich versucht, zur Hütte hinüberzugehen und ein Gespräch mit dem Jungen zu erzwingen, doch dann besann ich mich meines eigentlichen Vorhabens und verschob alles weitere auf später.
    Das Kloster der Klarissenschwestern lag gleich neben dem nördlichen Stadttor und grenzte mit einer Seite an das Hamelner Urdorf, mit der anderen an das Ödland der Baustellen. Das zweistöckige Haupthaus war ein rechteckiger Klotz aus grobem Stein, schmucklos bis auf einen niedrigen Glockenturm an der Dorfseite. Zwei Nebenflügel aus Fachwerk und Lehm gaben der Anlage die Form eines Kreuzes.
    Der Orden war sieben Jahrzehnte zuvor vom heiligen Franziskus von Assisi und der heiligen Klara in Italien gegründet worden und hatte sich seither mit beachtlicher Geschwindigkeit über das ganze Festland ausgebreitet. Novizinnen bekannten sich beim Eintritt neben der Schweigepflicht auch zum Privileg demütiger Armut.
    Äbtissin Waldrada empfing mich in einem schlichten Raum im oberen Stockwerk des Haupthauses. Die rohen Steinwände waren mit Teppichen behangen, es gab einen Tisch, zwei Holzschemel und einen kleinen Altar, auf dem eine einsame Kerze brannte. Das klamme Gemäuer dünstete einen strengen Geruch von Feuchtigkeit und Schimmel aus. Die Kammer war ungemein düster, nur ein Lichtstrahl spannte sich wie ein Spinnenfaden vom einzigen Fenster bis zu einem Punkt an einem der Tischbeine. Selbst der Staub schien sich dem freudlosen Klosterleben anzupassen; graue Flocken schwebten träge durch den fahlen Schein wie schlafende Fische.
    Waldrada trug dunkle, fließende Gewänder, die jeden Fingerbreit ihres Körpers bedeckten. Allein ihr uraltes Gesicht schimmerte kalkweiß in den finsteren Stoffbergen wie ein Mond zwischen Abendwolken. Es erforderte einiges Überredungsgeschick und verhaltene Drohungen mit der Macht des Herzogs, bis sie mir ein Treffen mit der jungen Novizin gestattete.
    »Ihr werdet mit Schwester Julia sprechen können, Ritter, doch sehen dürft Ihr sie nicht«, gebot sie mit spröder, knarrender Stimme. Man hörte ihr an, daß sie selten benutzt wurde. »Versucht nicht, dieses Verbot zu umgehen. Und ich muß Euch um Eile bitten, denn die Sprechzeit, die ich Euch gewähre, verstößt gegen die Regeln unseres Ordens und wird daher knapp bemessen sein.«
    Dergestalt eingewiesen folgte ich ihr eine steinerne Wendeltreppe hinab in die Ungewisse Tiefe eines Kellergewölbes. Entlang eines engen, unterirdischen Flurs durcheilten wir die Dunkelheit. Vor einer niedrigen Holztür hieß sie mich schließlich anzuhalten.
    »Tretet ein und setzt Euch auf den Hocker«, wies sie mich an. Ihr Gesicht schwebte knöchern im Nichts.
    »Nach einer Weile wird Julia durch ein Gitter in der Nordwand zu Euch sprechen. Auf dem Boden steht eine Sanduhr. Dreht sie, sobald sich Euch die Schwester zu erkennen gibt – Ihr erkennt daran, wieviel Zeit Euch noch bleibt.«
    Waldrada wartete nicht auf eine Erwiderung, sondern fuhr mit rauschenden Gewändern herum und entschwand.
    Ich öffnete die Tür und trat mit gebückten Schultern hindurch. Dahinter lag eine Kammer von allerhöchstens zwei Schritten Durchmesser. Durch eine kreuzförmige, kaum handgroße Öffnung in der Decke stach trübes Zwielicht auf einen Hocker vor der gegenüberliegenden Wand. Ich setzte mich, wie es die Äbtissin verlangt hatte, und suchte im Schatten neben meinen Füßen nach der Sanduhr. Ich fand sie und hielt sie bereit. Ein wertvolles Stück, zweifelsohne.
    Auf Höhe meines Gesichts befand sich in der Mauer ein viereckiges, kopfgroßes Eisennetz, engmaschig wie feines Gewebe. Ich selbst wurde durch das spärliche Licht von oben beschienen und war somit für mein Gegenüber auf der anderen Seite zu erkennen. Solange aber die Schwester im Dunkel blieb, würde

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