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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ich ihr Gesicht nicht einmal erahnen können.
    Nach einer Weile vernahm ich in der Schwärze zarte Schritte, dann leise Atemzüge.
    »Schwester Julia?« fragte ich sanft.
    »Ja«, hauchte eine Stimme. Nur dieses eine, vorsichtige Wort.
    »Schwester Julia, ich muß mit Euch sprechen.«
    »Tut Ihr das nicht bereits?« Sie klang sehr jung, sehr verletzlich. Jede Silbe wie aus edler Seide, zerbrechlich wie venezianisches Glas. Daher erstaunte mich die Forschheit ihrer Antwort.
    Ich setzte an, ihr eine Frage zu stellen, doch sie kam mir zuvor: »Habt Ihr nicht etwas vergessen, edler Herr?«
    »Was meint Ihr?«
    »Die Sanduhr.«
    »Oh, ja.« Ich blinzelte angestrengt. Mein Gesicht mochte sie sehen können – doch die Uhr in meinen Händen? Unmöglich. Erstmals verspürte ich einen Anflug von Unsicherheit.
    Sie wartete, bis der Sand durch die Gläser rieselte, dann fragte sie: »Wie sieht die Stadt aus?«
    »Ich glaubte, Ihr seid erst vor drei Monaten in dieses Kloster eingetreten.«
    »Hameln verändert sich von Tag zu Tag. Häuser wachsen in wenigen Wochen aus dem Morast, Straßen entstehen, wo vorher nur Schmutz war. Wie also sieht die Stadt heute aus?«
    »Mir fehlt der Vergleich«, erwiderte ich.
    »Aber Ihr stammt doch aus Hameln, edler Ritter.«
    »Woher wißt Ihr das?«
    Sie kicherte leise, fast schelmisch. »Ist das wirklich Eure erste Frage? Denkt daran, die Zeit ist knapp bemessen.«
    »Ja, sicher.« Bebte meine Stimme etwa? »Nun, Schwester Julia, bevor Ihr Euch entschiedet, dem Orden der Klarissen beizutreten, da wart Ihr eine Kinderfrau.«
    »Wer sagt das?«
    »Ist das nicht gleichgültig?«
    »Keineswegs. Denn ich war keine Kinderfrau. Wer das behauptet, ist ein Lügner.«
    »Was wart Ihr dann?«
    »Oh«, sagte sie nur und lachte leise. Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Wenn ich Euch die Wahrheit sage, werdet Ihr mir Glauben schenken?«
    »Sonst wäre ich nicht hergekommen.«
    »Julia ist nicht mein wirklicher Name. Tatsächlich bin ich eine andere.«
    »Ihr sprecht in Rätseln, Schwester. Dazu ist, mit Verlaub, jetzt keine Zeit.«
    »Gut – dann sagt mir, was Ihr wollt.«
    »Ob Kinderfrau oder nicht: Es heißt, Ihr hättet beobachtet, wie die Kinder Hamelns die Stadt verließen.«
    Ihre Antwort kam nach kurzem Zögern: »Und wieder muß ich Euch ernüchtern. Nichts dergleichen habe ich gesehen.«
    Allmählich begann ich, an Dantes Worten zu zweifeln. Ich hatte mich nicht einmal erkundigt, wie er von Schwester Julia erfahren hatte.
    »Wollt Ihr behaupten, daß Ihr nichts über das Verschwinden der Kinder wißt?«
    »In der Tat.«
    »Und Ihr seid völlig sicher?«
    »Höre ich Enttäuschung in Eurer Stimme, edler Ritter?«
    Ich warf einen Blick auf die Sanduhr; knapp die Hälfte der Zeit war abgelaufen. »Ja, um ehrlich zu sein.«
    »Das tut mir leid. Vielleicht kann ich Euch mit einem anderen Hinweis helfen.«
    »Versucht es.«
    »Beantwortet mir erst eine Frage.«
    Darauf schwieg ich, und Julia fuhr fort: »Wie kam Eure Familie ums Leben?«
    Die Frage leerte meinen Kopf auf einen Schlag von sämtlichen Gedanken. Fort waren die Kinder und das Rätsel um sie; fort waren Dante, Maria, die Herberge; und fort war auch die stete Bedrohung durch den mordlüsternen Pöbel. Jetzt waren da nur noch diese sechs Worte, und sie glühten wie Brandzeichen in der Dunkelheit: Wie kam Eure Familie ums Leben?
    »Eine Pilzvergiftung«, hörte ich mich sagen, scheinbar ganz ohne mein Zutun.
    »Könnt Ihr die Folgen genauer beschreiben?«
    »Schwester Julia, ich weiß nicht, ob –«
    Sie fiel mir ungeduldig ins Wort. »Ihr wollt mein Wissen, oder? Doch erst will ich das Eure. Beschreibt mir die Folgen!«
    »Mein Vater und meine Mutter lagen am Boden, wanden sich in Krämpfen. Meine jüngere Schwester war von ihrem Hocker auf den Tisch gekrochen, strampelte mit Armen und Beinen. Krüge und Schalen fielen herunter, zerbrachen.«
    »Genauer!«
    »Sie schnappten nach Luft, Schaum quoll aus ihren Mündern. Es dauerte nicht lange, dann rührte sich keiner mehr.«
    »Aber sie waren nicht tot.«
    »Nein, das stimmt. Aber wie könnt Ihr –«
    »Erst Eure Antworten, dann die meinen. Wie also starben sie wirklich?«
    Ich holte tief Luft. »Am Tag darauf wurden sie begraben. Ich wachte den ganzen Tag und die ganze Nacht an ihren Gräbern.«
    »Wie alt wart Ihr?«
    »Acht Jahre.«
    »Weiter«, verlangte sie.
    »In der Nacht vernahm ich plötzlich Geräusche. Erst glaubte ich, sie kämen aus dem Gebüsch. Ich dachte, man sei gekommen,

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