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Der Rattenzauber

Titel: Der Rattenzauber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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der Priesterin stand, dort, wo das Felsplateau an den Waldrand grenzte. Braune Flecken bedeckten die Oberfläche des Steins. Erst glaubte ich, es seien Flechten, dann aber begriff ich, daß es Blut war. Braunes, getrocknetes Blut. Hier brachte der Kult dem Götzen seine Opfer dar.
    Es konnte unmöglich Zufall sein, daß Liutbirg mich ausgerechnet hierher geführt hatte. Doch welche Absicht lag darin, mir die Blutopfer der Wodan-Jünger zu gestehen? Mußte dies meinen Verdacht gegen sie nicht bestärken? Oder wollte sie durch ihre Ehrlichkeit mein Vertrauen gewinnen? Welch plumpes Unterfangen!
    Ich versuchte, meine Gedanken für mich zu behalten, und berichtete der fetten Priesterin statt dessen aufrichtig, was mich nach Hameln geführt hatte. Dabei verschwieg ich den Verdacht gegen ihren Kult, so daß es mich um so mehr erstaunte, als sie sagte:
    »Und du glaubst, wir hätten diese Kinder entführt?«
    Ein herzhaftes Lachen entfuhr ihren wulstigen Lippen. Kein schöner Anblick, kein angenehmer Laut. »Weshalb hätten wir das tun sollen?«
    »Um euch an den Menschen aus Hameln zu rächen«, entgegnete ich scharf, des Versteckspiels überdrüssig. Ich war Ritter des Herzogs; sie würde nicht wagen, ihre Männer auf mich zu hetzen.
    »Rache ist etwas für Götter, nicht für uns Sterbliche«, sagte sie voller Überzeugung und deutete mit einer Hand hinauf in den tiefgrauen Himmel. »Dereinst wird Wodan den Sturm über diese Stadt bringen. An der Spitze seiner wilden Jagd wird er durch die Gassen preschen und die Schuldigen mit sich nehmen. Und glaube mir, Robert von Thalstein, dieser Tag steht eher bevor, als manch einer dort unten denken mag. Spürst du, wie sich die Luft verändert, wie der Wind verstummt? Kannst du es fühlen? Natürlich – jeder hier kann es. Wodan versammelt die Winde um sich, und mit ihnen die Seelen der Toten. Dies ist die Ruhe vor dem Sturm – vor Wodans Sturm!«
    Ich wollte etwas darauf erwidern, wollte ihr sagen, was ich von ihrem heidnischen Geschwafel hielt, sogar auf die Gefahr hin, selbst auf dem Altar der Ketzer zu landen. Doch Liutbirg kam mir erneut zuvor:
    »Oh, ich weiß genau, wer diesen Verdacht in dein Herz gesät hat, ich kenne unsere Feinde. Der Probst hat mit dir gesprochen, nicht wahr? Gunthar von Wetterau ist es, der uns anklagt, nicht du und nicht dein Herzog.«
    Erneut war es ihr gelungen, mich in gelindes Erstaunen zu versetzen. Diese Frau wußte Dinge, die sie nach den Gesetzen der Vernunft nicht wissen konnte.
    »Das Blut, das du dort siehst«, fuhr sie aufgebracht fort, »ist das Blut von Tieren. Kein Mensch ist auf diesem Altar gestorben, und keiner wird es je. Es ist wahr: Wir verehren Wodan, den Herrn aller Götter. Wir leben auf einem Friedhof, und viele von uns werden vom Gesetz verfolgt, wegen Kuppelei und Raub, wegen Entführung und sogar wegen Mordes. Doch glaube mir, wir haben keinem dieser Kinder etwas zu leide getan, noch kennt einer von uns den Ort ihres Aufenthalts. Irgend etwas ist dort unten in Hameln geschehen, etwas, für das man uns die Schuld geben will, und ich weiß nicht einmal, was es ist. Wenn dir wirklich etwas an deiner Aufgabe liegt, dann finde die Wahrheit heraus und vertraue nicht aufs Geratewohl einem Sklaven eurer Kirchenfürsten. Sag, Ritter Robert, was weiß du über Gunthar von Wetterau?«
    »Nicht er ist es, um den es geht«, warf ich ein, erzürnt durch ihre schamlosen Worte.
    Sie schien den Einwurf nicht wahrzunehmen. »Dieser Mann ist besessen«, fuhr sie fort. »Er ist besessen von der Macht der Kirche, ebenso wie sein Herr, der Vogt Ludwig von Everstein – und wie dessen Herr, der Bischof von Minden. Einer ist nicht besser als der andere, und doch ist Gunthar von Wetterau der gefährlichste von allen. Hast du die Mysterienbühne auf Hamelns Marktplatz gesehen?«
    Ihr ausgestreckter Zeigefinger deutete hinab in die Tiefe, und, tatsächlich, dort ragten die Aufbauten der Bühne aus dem Stadtrund wie Knochen aus einem offenen Grab.
    »Gunthar von Wetterau ließ sie errichten«, sagte die Priesterin. »Er überzeugte die Bürger der Stadt, arm wie reich, von der Notwendigkeit der Mysterienspiele zu Ehren eures Judengottes. Hah! Nur einem gereichen sie zur Ehre, und das ist von Wetterau selbst. Er hat einen Pakt mit dem Papst geschlossen: Bringt er die Spiele ohne Zwischenfall zu ihrem glorreichen Ende, so wird ihn Roms oberste Pfaffe nach seinem Tode heiligsprechen. Begreifst du? Gunthar ist dann selbst ein Heiliger, und er verfolgt

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