Der Rattenzauber
mich. Ich fuhr herum.
Doch es war nicht Julia. Es war die Äbtissin. Waldrada stand halb verborgen im Dunkel eines Fensters, ein schwarzer Schemen vor noch tieferer Finsternis. Sie schien mir nachzusehen, als ich ging, und ihr Blick war kalt wie die Berührung einer Toten.
Erst später begriff ich, daß nicht ich es war, den sie beobachtete. Sie blickte über mich und über die Stadt hinweg zum Kopfelberg, und ihre Augen maßen seine bucklige Masse wie ein Heerführer die feindlichen Horden.
***
Der Bronzekopf empfing mich mit tickendem Getöse. Ich hätte schwören mögen, daß die Geräusche abermals lauter geworden waren, lauter, immer lauter, und nun schien mir auch das Schaben und Surren in seinem Inneren deutlicher vernehmbar. Plötzlich überkam mich die Gewißheit, daß der Kopf mich in den Wahnsinn treiben würde, wenn ich dem Ticken nicht sogleich ein Ende setzte. Ich hob ihn mit beiden Händen vom Tisch und schüttelte ihn, bis meine Arme schmerzten. Die Laute blieben gleich, ja, nun schien es mir gar, als steigere sich das Spektakel zu hämischen Höhen, als erfreue sich der Schädel an meiner Pein. Kühl und schwer lag er zwischen meinen Händen. Der gestrenge Ausdruck seiner Züge änderte sich nicht, und doch war mir, als leuchte da ein spöttisches Funkeln in seinen Augen. Einbildung? Wirklichkeit? Die Begriffe verschoben sich von Mal zu Mal, überlagerten sich, zogen wieder auseinander. Was immer mit mir geschah, es veränderte auch die Umgebung. Oder war auch das nur ein Trugbild in meinem Kopf?
Ich schleuderte den Schädel von mir. Polternd krachte er zu Boden und rollte unters Bett.
»Warum tust du mir das an?« erklang seine Stimme dumpf aus den Schatten.
Ich entschied, die Worte zu überhören. Nicht länger sollten Hirngespinste mein Tun bestimmen.
Der Schädel ließ sich nicht beirren. »Du solltest dir hier unten etwas ansehen«, fügte er hinzu.
Ich beachtete ihn nicht, und so schwieg er schließlich.
Geraume Zeit später mußte ich mir eingestehen, daß ich meine Neugier nicht länger im Zaum zu halten vermochte. Ich ging vorm Bett in die Knie und beugte mein Gesicht herunter, bis ich mit einem Ohr am Boden lag. Der Schädel schimmerte matt im Dunkel und starrte mir in die Augen. Er sagt kein Wort. Er tickte.
Maria hatte das Mehl vom Boden gefegt, doch hier unten lagen noch einige Reste, vermischt mit Staub und Schmutz. Es war so dunkel unter dem Bett, daß ich kaum bis zur rückwärtigen Wand sehen konnte. Ich packte den Schädel, zog ihn hervor und legte ihn achtlos auf die Liege. Er sprach noch immer nicht. Ohne mir weitere Gedanken über ihn zu machen, blickte ich angestrengt in die Schatten. Was hatte der verfluchte Kopf gemeint, als er sagte, ich müsse mir etwas ansehen?
Ich entdeckte es erst, als ich die Suche schon fast aufgegeben hatte. Es war ein kleiner brauner Lederbeutel, so groß wie meine Hand und ebenso flach. Er war rundherum zugenäht und mit einem Nagel unter das Bett geschlagen worden. Dort hing er, stocksteif, und niemand hätte ihn je bemerkt, wäre nicht der Bronzekopf darauf gestoßen.
Ich griff danach, mußte aber feststellen, daß der Nagel tief im Holz saß und sich mit bloßer Hand nicht lösen ließ. Also holte ich meinen Dolch herbei und begann, damit den Nagel hervorzuhebeln. Schließlich hielt ich den Lederbeutel in der Hand. Er fühlte sich hart an, war aber achtlos verarbeitet, denn die Nähte an seinen Rändern waren grob und in weiten Abständen angebracht, als habe jemand sein Werk in höchster Eile verrichten müssen. Ich wog ihn unentschlossen in der Hand, roch daran – und sogleich überkam mich Abscheu. Was immer sich in dem Beutel befinden mochte, es stank entsetzlich.
Ich stand auf, legte den Beutel auf den Tisch und begann dann, mit der Dolchspitze die Nähte zu lösen. Ganz langsam, eine nach der anderen. Der Faden war straff gespannt und schnellte jedesmal mit einem dumpfen Laut auseinander, wenn ich ihn zerschnitt. Schließlich war es vollbracht, und ich klappte die obere Hälfte des Beutels mit dem Dolch nach hinten. Da endlich sah ich, was sich in seinem Inneren befand.
In der Mitte lagen zwei winzige Kadaver, von jungen Mäusen oder Ratten. Die kleinen Körper waren längst blättriger Fäulnis anheimgefallen, doch es war deutlich zu erkennen, daß sie miteinander verwachsen waren. Mißgeburten, die sogleich nach dem Wurf gestorben waren. Es gab ein Wort dafür, und nach einigem Grübeln fiel es mir ein: Rattenkönig. Zwei
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