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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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von Schreibern und Sekretären beschäftigt hatte, waren längere Besprechungen mit seinen Munshis und Gumashtas überflüssig gewesen, weil sie sehr viel besser als er mit den altehrwürdigen Konventionen vertraut waren, die Form und Inhalt der Briefe eines Zamindars vorschrieben. Später, als er nach seiner Verurteilung wegen Urkundenfälschung im Alipore-Gefängnis von Kalkutta auf seinen Abtransport wartete, verdiente er sich so manche Vergünstigung damit, Schreiben für andere Insassen aufzusetzen – doch auch dafür hatte er sich nicht groß anstrengen müssen, denn die meisten dieser Verurteilten waren Analphabeten, und egal, ob ein Brief nun für ihre Angehörigen zu Hause oder für einen jungen Mann im Nachbartrakt bestimmt war, immer hatten sie Nil im Vertrauen auf sein Sprachvermögen freie Hand bei der Formulierung ihrer Gedanken gelassen.
    Angesichts solcher Erfahrungen mit dem Briefeschreiben kamen Bahrams Korrespondenzgewohnheiten für Nil ziemlich überraschend. Die Briefe des Seths folgten kaum jemals irgendwelchen Regeln oder Usancen, da sie überwiegend den Zweck hatten, seine Partner über die Situation in Südchina auf dem Laufenden zu halten. Und Nil konnte auch nicht erwarten, dass sich der Seth auf sein Urteil verlassen würde, denn für ihn war ein Munshi offenbar nur ein besserer Lakai – einer, der dem Rang nach irgendwo zwischen einem Kammerdiener und einem Geldprüfer stand und dessen Hauptaufgabe es war, die sprachlichen Fehler seines Dienstherrn auszubügeln und aus dessen Wortschatz die wertvollsten Stücke herauszuzählen.
    Zusätzlich erschwert wurde Nils Arbeit durch die Diktiergewohnheiten des Seths. Er ging dabei immer rastlos auf und ab, was das Durcheinander seiner Worte noch verschlimmerte, die oft in verschlungenen Sturzbächen aus ihm hervorbrachen, jeder mit den Sedimenten vieler Sprachen beschwert – Gujarati, Hindustani, Englisch, Pidgin, Kantonesisch. Unterbrach er ihn mittendrin, um nach dieser oder jener Redewendung, nach diesem oder jenem Wort zu fragen, riskierte er einen Rüffel – das musste er sich bis zum Schluss oder, besser noch, für Vico aufheben. Um sich bis dahin einen Reim auf die gurgelnde akustische Schneeschmelze zu machen, blieb ihm nichts anderes übrig, als genau aufzupassen, aber nicht nur darauf, was Bahram sagte, sondern auch auf die Gesten, Zeichen und Mimik, mit denen er die Bedeutung seiner Worte unterstrich, erweiterte und sogar negierte. Diese wortlosen Mitteilungen durften nicht leichthin ignoriert werden. Einmal, als Nil einen Satz als »Mr. Moddie erklärt, dass er dieser Bitte entsprechen wird« wiedergab, stellte Bahram ihn wegen seiner Nachlässigkeit zur Rede. »Wie denn das?«, fragte er ihn. »Haben Sie denn nicht die Handbewegung gesehen, die ich dabei machte: so! Wie können Sie das als ›ja‹ missverstehen? Sehen Sie nicht, dass es ›nein‹ bedeutet? Haben Sie geträumt oder was?«
    Und dann war da das Fenster im daftar, das ständig Anlass zu Misshelligkeiten lieferte. Nils Schreibtisch stand zwar in der hintersten Ecke des Raums, doch von draußen kam ein ständiges Durcheinander aus Geräuschen herein: das Kauderwelsch der Straßenhändler und das Gegröle der betrunkenen Matrosen, das Gejammer der Bettler, das Zwitschern zahmer Singvögel, die in ihren Käfigen herumgetragen wurden, die plötzlichen lauten Gongschläge, wenn hochgestellte Persönlichkeiten vorübergingen, und so weiter. Die vom Maidan aufsteigende Kakophonie änderte sich von Minute zu Minute.
    Mehr noch als Nil litt sein Dienstherr unter dem Lärm von draußen. Oft brach er mitten im Satz ab und stand wie hypnotisiert da. Als Silhouette vor dem Fenster, mit seinem kuppelartigen Turban und seinem weiten angarkha, gab der Seth eine so majestätische Figur ab, dass Nil sich manchmal fragte, ob er mit dieser Pose den Passanten auf dem Maidan imponieren wollte. Doch Bahram war keiner, der lange stillstehen konnte. Wenn er eine Weile missgelaunt in die Ferne gestarrt hatte, begann er wieder auf und ab zu gehen, so ruhelos, als müsse er vor einem Gedanken oder einer Erinnerung fliehen. Wenn er aber erneut hinausschaute und einen Freund oder Bekannten erblickte, schlug seine Stimmung um: Er lehnte sich aus dem Fenster und rief Begrüßungen hinab, auf Gujarati (Sahib kem chho?), auf Kantonesisch (Nei hou ma? Ng sin-saang? Hou-noih-mouh-gin!), in Pidgin (Chin-chin, Attock; lang Zeit nix seh!) oder auch auf Englisch (Guten Morgen, Charles! Wie geht es

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