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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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ertrugen sie wie Launen der Witterung.
    Beliebt war Bahram auch keineswegs nur im Achha Hong: Da die Beantwortung von Einladungen ebenfalls zu Nils Aufgabenbereich gehörte, wusste er genau, war für ein gern gesehener Gast der Seth bei gesellschaftlichen Anlässen in der Enklave war.
    Die außerordentlich regen gesellschaftlichen Aktivitäten in Fanqui-Town waren eine ständige Quelle der Verwunderung für Nil. Dass es in einem so kleinen Gemeinwesen mit einer so bunt zusammengewürfelten Einwohnerschaft überhaupt ein gesellschaftliches Leben gab, noch dazu ein so reges, erschien ihm unglaublich. Erstaunlich auch, dass all diese Aktivitäten von einer so kleinen Anzahl von Leuten veranstaltet wurden, denn bei den ausländischen Kaufleuten und ihren chinesischen Geschäftspartnern handelte es sich insgesamt nur um ein paar Hundert Männer (allerdings, so gab Vico Nil einmal zu bedenken, gehörten etliche dieser Burschen zu den Reichsten der Welt – »und hier sitzen sie einander dicht auf der Pelle und haben kaum Platz genug, sich umzudrehen. Keine Familien, nichts zu tun – die müssen sich ja ihr Vergnügen selbst fabrizieren, oder? Wenn man keine Frau im Haus hat, denkt man da daran, sich alleine an den Tisch zu setzen?« Und welcher falto geht schon gern früh zu Bett, wenn da keine liegt, mit der er sich zanken kann!).
    Es waren auch nicht nur die Seths und Taipans, die sich darauf verstanden, ihr Leben zu genießen: Während die Haushaltsvorstände auf ihren Banketten weilten, feierten die Angestellten ihre eigenen Feste, bei denen Speisen und Getränke nicht knapper waren als an den Tafeln ihrer Chefs (und oft auch aus denselben Küchen kamen). Hinterher spazierten sie dann am Flussufer entlang und verglichen die mannigfaltigen Vergnügungen, die in den verschiedenen Hongs geboten wurden – und nicht selten kamen sie zu dem Schluss, dass sie sich viel besser unterhalten hatten als ihre Arbeitgeber.
    Vico verfügte in Fanqui-Town über genauso eindrucksvolle Beziehungen wie Bahram. Er hatte in jeder Faktorei Bekannte und war oft bis in die frühen Morgenstunden außer Haus. Seine Vorliebe für gutes Essen und Trinken war im Achha Hong legendär, und niemand prahlte mehr damit als er selbst. Er gehörte zu denjenigen, die sich wichtigmachten, indem sie sich selbst der Zügellosigkeit bezichtigen. Wenn man ihn reden hörte, bekam man den Eindruck, dass er nichts lieber tat, als seine Tage im Bett zu verbringen, zu essen, zu trinken, zu furzen und Unzucht zu treiben.
    Da er diese Rolle so konsequent und überzeugend darstellte, begriff Nil erst nach einer ganzen Weile, dass Vico in Wahrheit das genaue Gegenteil davon war: ein fleißiger, tatkräftiger Angestellter, treuer Ehemann und guter Katholik. Dass er außerdem ein vielseitig begabter Mensch mit überraschenden Verbindungen nach den verschiedensten Richtungen war, erschloss sich erst über beiläufige Bemerkungen und Hinweise, etwa auf seine Beziehung zu dem indischen Franziskaner-Laienbruder und Missionar Gonsalo Garcia, der zusammen mit etlichen anderen Katholiken, darunter fünf weiteren Franziskanern, bei Nagasaki in Japan gekreuzigt worden war. Der Märtyrer war von Papst Urban VIII . seliggesprochen worden, und in seinem Geburtsort wurde er bereits als künftiger Heiliger verehrt. Wie sich herausstellte, stammte Vico aus ebendiesem Dorf – Bassein bei Bombay – , und seine Familie war eine von mehreren, die sich einer entfernten Verwandtschaft mit der Familie des verehrungswürdigen Paters rühmen konnte.
    Dank ihres Netzwerks aus Glaubensbrüdern im ländlichen China waren Angehörige der katholischen Missionsorden oft hervorragend über die Vorgänge im Land informiert. Manche von ihnen kamen ab und zu nach Kanton, um sich um die Bedürfnisse der katholischen Einwohner der Enklave zu kümmern, und trotz ihres angeblichen Hangs zur Geheimniskrämerei waren sie nicht immun gegen den Zauber von Vicos Verbindungen.
    Diese Kontakte waren auch oft Nil von Nutzen, denn abgesehen vom Briefeschreiben war es eine seiner wichtigsten Aufgaben, Neuigkeiten zu sammeln. Nach den ersten Wochen in Kanton hatte er die Hoffnung aufgegeben, jemals Bahrams unersättlichen Appetit auf Neuigkeiten stillen zu können. Da er niemanden in der Stadt kannte und seine einzigen Informationsquellen die beiden Zeitungen Canton Register und Canton Repository waren, blieb ihm nichts anderes übrig, als alte Ausgaben auf irgendwelche interessanten Berichte hin zu durchforschen.

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