Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Das Repository war das wissenschaftlichere der beiden Blätter – es enthielt überwiegend lange Artikel über Themen wie die Lebensgewohnheiten der Schuppentiere oder Hexerei bei den Malaien. Solche Dinge interessierten Bahram nicht: Er verachtete abstrakte Probleme ebenso wie nutzlose Fakten.
»Ich will nichts von diesem professoralen Kram hören, Munshiji! Nachrichten, Nachrichten, Nachrichten, sonst nichts. Kein ›des ungeachtet‹ und ›hinwiederum‹. Nur die khabar. Verstanden?«
Das Canton Register war sowohl nachrichtenlastig als auch polemisch und deshalb für Bahram interessanter, vor allem weil der Chefredakteur, John Slade, auch der Handelskammer angehörte. Deshalb kannte er den Inhalt des Register oft schon, bevor er im Druck erschien.
»Munshiji«, zischte der Seth immer wieder einmal gereizt,»wozu erzählen Sie mir diese alten Geschichten? Wenn ich Sie um Milch bitte, bringen sie mir doch auch keinen Quark!«
Manchmal erbarmte sich Vico und versorgte Nil mit Neuigkeiten, von denen er wusste, dass sie den Seth interessieren würden. So konnte Nil eines Morgens verkünden: »Sethji, ich habe etwas, was Sie bestimmt hören wollen.«
»Ja, was?«
»Sethji, es ist eine an den Sohn des Himmels gerichtete Denkschrift. Das Register hat eine Übersetzung davon veröffentlicht. Ich dachte, die wird Sie interessieren. Es geht um die Frage, wie man den Opiumhandel unterbinden kann.«
»Ach ja?«, sagte Bahram. »Na gut. Schießen Sie los.«
»›Schon als zum ersten Mal Opium nach China eingeführt wurde, sah Ihr gütiger Großvater, bekannt als der Weise, voraus, welchen Schaden es anrichten würde. Deshalb warnte er nachdrücklich davor, riet allen Untertanen davon ab und erließ ein gesetzliches Verbot. Doch zu der Zeit konnten sich die Staatsdiener nicht vorstellen, dass die verderbliche Sucht ganz China überziehen würde, wie es heute der Fall ist. In früheren Zeiten beschränkte sich der Genuss von Opium auf die verwöhnten Kinder der Reichen, für die es ein müßiger Luxus wurde. Doch seither hat sich sein Gebrauch nach oben hin auf die Staatsbeamten und den Adel und nach unten auf Arbeiter und Händler, ja sogar auf Frauen, Mönche, Nonnen und Priester ausgedehnt. An jedem Ort sind die Opiumraucher zu finden, und die dafür erforderlichen Utensilien werden am helllichten Tag öffentlich verkauft. Die Einfuhr des Rauschgifts aus dem Ausland nimmt ständig zu. Vor Lintin und anderen Inseln ankern Spezialschiffe für die Lagerung von Opium. Sie passieren nie die Bocca Tigris und erreichen nicht den Fluss, aber gewissenlose Kaufleute aus Guangdong schicken in Absprache mit dem Militär schnelle Boote aus, sogenannte ›Scrambling Dragons‹ und ›Schnellruderer‹, um Silber aufs Meer hinauszubringen und Opium ins Reich zu schmuggeln. Auf diese Weise verliert das Land jährlich Silber im Wert von mindestens dreißig Millionen Tael. Der Wert des legalen Handels, also die Einfuhr von Wollsachen und Uhren sowie die Ausfuhr von Tee, Rhabarber und Seide, beläuft sich auf weniger als zehn Millionen Tael pro Jahr und der Gewinn daraus nur auf einige Millionen. Der Gesamtwert des legalen Handels macht somit nicht einmal ein Zehntel oder ein Zwanzigstel der Gewinne aus, die mit dem Opiumhandel erzielt werden. Daraus wird deutlich, dass die ausländischen Händler sich ganz überwiegend nicht für den legalen Handel interessieren, sondern nur für den Opiumhandel. Dieser Abfluss von Wohlstand aus China hat sich zu einer gefährlichen Krankheit entwickelt, und Ihre Minister sehen sich außerstande vorherzusagen, wohin das noch führen wird … ‹«
Bahram schob unversehens seinen Teller weg und erhob sich. »Wer hat das geschrieben?«
»Ein ranghoher Wesir bei Hofe, Sethji.«
Bahram begann auf und ab zu gehen. »Na gut, fahren Sie fort. Was schreibt er noch?«
»Er erörtert verschiedene Vorschläge zur Unterbindung der Opiumeinfuhr nach China.«
»Und die wären?«
»Einer besagt, dass alle chinesischen Häfen blockiert werden sollen, damit keine ausländischen Schiffe einlaufen oder Geschäfte machen können.«
»Was hält er von dieser Methode?«
»Er meint, das würde nicht funktionieren.«
»Warum nicht?«
»Weil die chinesische Küste zu lang ist, Sethji, und deshalb unmöglich vollständig blockiert werden kann. Die Ausländer hätten enge Beziehungen zu chinesischen Händlern und Beamten aufgebaut, sagt er, und weil es um so viel Geld geht, gebe es mit Sicherheit Korruption in
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