Der rauchblaue Fluss (German Edition)
sich nicht beirren, und dazu braucht es einigen Mut auf einer Weide, auf der alle anderen Kreaturen treu und brav den blökenden Leithammeln nachtrotten.
Mr. King ist noch nicht ganz dreißig und trotzdem schon Seniorpartner seiner Firma. Doch vom Aussehen her würde man ihn nie für einen Geschäftsmann halten. Albern wie ich bin, kann ich nicht leugnen, liebste Paggli, dass ich mich unter anderem deshalb zu Mr. King hingezogen fühle, weil er eine auffällige Ähnlichkeit mit einem Maler hat, der höher in meiner Achtung steht als jeder andere moderne Künstler: dem wunderbaren und tragischen Théodore Géricault.
Ich habe nur ein einziges Konterfei von Géricault gesehen, eine Federzeichnung von einem Franzosen, dessen Name mir entfallen ist – sie zeigt ihn als einen jungen Mann mit dunklen Locken, die ihm in die Stirn fallen, einer herrlichen Kinnpartie und einem Blick, der wunderbar verträumt und dennoch leidenschaftlich ist. Jedem, der dieses Bildnis einmal genau betrachtet hat, dürfte (wie mir) der Atem stocken, wenn er Mr. King zum ersten Mal erblickt, denn die Ähnlichkeit ist wahrhaft verblüffend!
Du erinnerst Dich sicher, meine Liebe, dass ich Dir einmal eine Kopie von Géricaults Meisterwerk Das Floß der Medusa gezeigt habe? Und vielleicht weißt du auch noch, dass uns die Qualen der todgeweihten Schiffbrüchigen auf dem Floß so rührten, dass das Blatt feucht von unseren Tränen wurde? Nur ein Mann, der selbst zutiefst Tragisches erlebt hat, konnte ein solches Bild von Leid und Verlust schaffen, da waren wir uns einig. Nun, das ist noch ein anderer Aspekt von Mr. Kings Ähnlichkeit mit dem Künstler meiner Fantasie: Es haftet ihm eine unglaublich tragische Melancholie an. So auffallend ist dieses Element in seiner Erscheinung, dass man nicht überrascht ist, wenn man (wie ich von Mr. Karabedian) von dem schier unerträglichen Verlust erfährt, den er in der Tat erlitten hat.
Wie es scheint, musste Mr. King aufgrund familiärer Umstände seine amerikanische Heimat verlassen, als er noch sehr jung war. Er wurde im Alter von siebzehn Jahren nach Kanton geschickt – damals war er noch blasser und zarter als heute – und von den ruppigeren Fanquis auf alle möglichen Arten verspottet und schikaniert. Worauf ihre Sticheleien abzielten, erschließt sich Dir aus dem Spitznamen, den er damals hatte – »Miss King« –, und auch wenn Du es nicht für möglich hältst, liebe Paggli, hinter vorgehaltener Hand ist dieser Name immer noch zu hören. Das ist nur einer der Gründe, weshalb ich so mit Mr. King sympathisiere, denn auch mir sind solche Bezeichnungen nicht fremd (»Lady Chin’ry!« »hijra!«). Ich weiß nur zu gut, wie es ist, von einer Meute budmashes angepöbelt zu werden. (Ach, wenn du wüsstest, wie oft ich mich mit solchen Rabauken prügeln musste, die mir den langot heruntergerissen haben … )
Aber Mr. King hatte mehr Glück als ich – die Vorsehung erbarmte sich seiner und schenkte ihm einen Freund . Als er ein oder zwei Jahre in Kanton war, kam ein anderer junger Mann aus Amerika nach Kanton, um in derselben Firma zu arbeiten. Er hieß James Perit und war allen Berichten zufolge ein Goldjunge: blitzgescheit, charmant und unglaublich gut aussehend (ich kenne ein Bild von ihm – und hätte ich nicht gewusst, dass es in Kanton gemalt wurde, wäre ich ganz sicher gewesen, dass es sich um keinen anderen als Mr. Gainsboroughs »Blue Boy« handeln kann!).
Ich weiß nicht, ob ich mir das alles nur einbilde, liebste Paggli (möglich wäre es durchaus, denn wie du ja weißt, bin ich ein unverbesserlicher Träumer) – , aber ich bin wirklich überzeugt, dass mein Géricault und der Blue Boy in der kurzen Zeit, die ihnen beschieden war, die vollkommenste aller Freundschaften genossen. Doch sie sollte nicht von Dauer sein, denn kaum war James Perit einundzwanzig geworden, da zog er sich ein virulentes Fieber zu …
Nun, ich will das nicht weiter ausmalen, meine allerliebste Paggli-rani (die Kleckse auf dieser Seite werden Dir zeigen, wie sehr mich diese Tragödie berührt ). Um es kurz zu machen: Der Goldjunge wurde dahingerafft und liegt jetzt auf dem Ausländerfriedhof auf French Island begraben, nicht weit von Whampoa.
Der arme Mr. King – von einem Glück kosten zu dürfen, wie es Sterblichen nur selten gewährt wird, und dann nur allzu bald zu erleben, dass es einem wieder entrissen wird! Er war völlig gebrochen und widmet sich seither der Religion und der Wohltätigkeit (in dieser
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