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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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ich über mein Gemälde nachdenke, desto größer wird es: Es gibt so viele Menschen, die ich einfach nicht weglassen kann. Die Mandarine zum Beispiel. Da gibt es einen, der von den Fanquis »der Hoppo« genannt wird – und dementsprechend würde man sich ihn als eine Art Känguru vorstellen. Aber nein, er ist lediglich der Oberzollinspektor von Kanton – doch seine Gewänder und Halsketten sind so prunkvoll, dass man meint, den leibhaftigen Kublai Khan vor sich zu haben. Und dann die Kaufleute der Cohong – die einzigen Chinesen, denen es erlaubt ist, Geschäfte mit Ausländern zu machen. Sie sind unvorstellbar reich und tragen die atemberaubendsten Kleider: seidene Roben mit prachtvollen Stickereien und Hüte mit Glasperlen, die ihren Rang anzeigen.
    Und weißt Du noch, liebste Paggli, wie ich in Kalkutta immer stundenlang Mogul-Miniaturen kopiert habe? Nun, das hat sich als ein höchst glücklicher Umstand erwiesen, denn es gibt in Kanton jemanden, der genau in diesem Stil gemalt werden müsste. Es ist ein sagenhaft reicher parsischer Kaufmann aus Bombay, Seth Bahramjii Naurozji Modi. Er ist eine der bedeutendsten Persönlichkeiten von Fanqui-Town und prachtvoll anzusehen obendrein: Er erinnert mich an Manohars berühmtes Gemälde des Mogulkaisers Akbar – mit Turban, wehendem angarkha, stattlichem Bauch und einem schönen Musselin-Kummerbund. Mr. Karabedian ist eng mit ihm befreundet und sagt, alle Fraktionen bemühten sich zurzeit hektisch, den Seth auf ihre Seite zu ziehen.
    Siehst du, Paggli, was für eine gewaltige Herausforderung mein episches Tableau bereits geworden ist? Dabei habe ich Dir erst einen kleinen Teil davon gezeigt. Es gibt noch so viele andere: den Chefredakteur des Canton Register zum Beispiel, Mr. John Slade. Er ist ungeheuer beleibt und sieht aus wie ein gigantischer Salat mit verschiedenen Zutaten aus dem Pflanzen- und Tierreich. Was für ein Vergnügen wäre es, ihn im Stil Arcimboldos zu malen – das Gesicht rot wie ein Granatapfel, die Koteletten glänzend wie die Schwanzfedern eines toten Fasans, ein Bauch von den Dimensionen einer Ochsenkeule und ein echter Stiernacken. Mr. Slades Organ hat ihm den Spitznamen »Donnerer« eingetragen hat – zu Recht, wie ich bezeugen kann: Ich höre ihn in meinem Zimmer, wenn er sich am ganz anderen Ende des Maidan befindet!
    Dann ist da Dr. Parker, der herumflattert wie ein Rabe, aber ein höchst liebenswerter Mensch ist und ein Hospital leitet, in dem viele chinesische Patienten behandelt werden. Und ein Mr. Innes, eine Art Stammesfürst aus dem Hochland. Er schreitet wie ein Kreuzritter über den Maidan und fängt mit jedem, der so dreist ist, ihm in die Quere zu kommen, Streit an. Mr. Karabedian sagt von ihm, er sei überzeugt, dass all sein Tun und Trachten, sogar der Verkauf von Opium, dem Willen einer höheren Macht unterworfen sei!
    Doch in Fanqui-Town ist diese Überzeugung gang und gäbe, sogar bei den Missionaren. Zwei davon sind ein grauenvoller deutscher Herr Gut-soundso, der ständig alle herumscheucht, und ein unerträglich hochnäsiger Reverend Bridgman. Ich gestehe, ich verabscheue diese Missionare, aber wohlgemerkt nicht, weil sie mich mit der beflissenen Herablassung behandeln, die einem armen kleinen Sünder zukommt. Laut Mr. Karabedian sind sie schreckliche Heuchler ; er habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie von der einen Seite eines Schiffs Bibeln verteilt und von der anderen Opium verkauft haben. Aber eines muss man ihnen lassen: Sie würden mir eine wunderbare Gelegenheit für Übungen im gotischen Stil bieten – es wäre doch ein Heidenspaß , sie als die Ghule und Scharlatane darzustellen, die sie in Wahrheit sind!
    Und das ist noch immer nicht alles, denn ich könnte auf keinen Fall Mr. Charles King unberücksichtigt lassen. Er verkörpert genau genommen keine Fraktion, da er ganz allein dasteht, doch wegen seiner Vorbildfunktion gilt er als sehr mächtig in Fanqui-Town. Er ist der Repräsentant von Olyphant & Co. – laut Mr. Karabedian die einzige Firma in Kanton, die nie mit Opium gehandelt hat! Natürlich erntet er dafür kein Lob von den anderen Fanquis – im Gegenteil, er wird wegen seiner Rechtschaffenheit verunglimpft und immer wieder verdächtigt, sich bei den Mandarinen anzubiedern. Aber Mr. King lässt sich weder durch Spott noch durch Drohungen vom rechten Weg abbringen: Obwohl er im Vergleich zu den ehrwürdigen Graubärten, die in Fanqui-Town den Ton angeben, ein wahrer Grünschnabel ist, lässt er

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