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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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    Wenn er seine Aufmerksamkeit wieder dem Brief zuwandte, hatte er oft vergessen, was er sagen wollte. Dann verdüsterte sich sein Gesicht, und sein Tonfall wurde scharf, als wollte er andeuten, dass Nil an der Unterbrechung schuld sei: »Achha, dann lesen Sie mir eben das Ganze vor, von Anfang an.«
    Wenn der vormittägliche chai mit samosa gebracht wurde, war das für Nil das Signal, den daftar zu verlassen. Von da an wurde Bahrams Aufmerksamkeit von einer Prozession anderer Angestellter in Anspruch genommen – Geldprüfern, Kontoristen und so weiter. Nil zog sich unterdessen in sein winziges, verrauchtes Kämmerchen neben der Küche zurück und machte sich an die Aufgabe, die Gedanken und Überlegungen des Seths in zusammenhängende Prosa zu bringen – auf Hindustani oder Englisch, je nachdem. Das war zwar oft schwierig und immer zeitraubend, aber nie langweilig: Während er die fertigen Texte in seiner schönsten Nastaliq- oder lateinischen Schreibschrift kopierte, fiel Nil immer wieder einmal auf, wie seltsam herausfordernd Bahrams Korrespondenz war. In seinen Briefen fanden sich keine der Schnörkel, Phrasen und Klischees, die eine so große Rolle in seiner Korrespondenz gespielt hatten, als er noch seinen eigenen daftar führte; Bahrams Gedankengänge drehten sich immer um das Hier und Jetzt – ob die Preise stiegen oder fielen und welche Folgen das für seine Geschäfte haben würde.
    Und doch, worin genau bestanden diese Geschäfte? Seltsamerweise hatte er trotz der langen Zeit, die er schon bei Bahram war, trotz der vielen Briefe, die er für ihn geschrieben hatte, nur eine ganz vage Vorstellung davon, wie Bahrams Unternehmen funktionierte. Dass er seine Gewinne hauptsächlich mit Opium machte, lag auf der Hand, doch wie viel er davon kaufte, wie viel er an wen verkaufte und wohin es geliefert wurde – das alles blieb Nil verborgen, denn in Bahrams Schreiben ging es fast nie um solche Dinge. Konnte es sein, dass sie bestimmte Codewörter enthielten, ohne dass ihm etwas auffiel? Fügte Bahram nachträglich handschriftliche Randbemerkungen in Gujarati ein? Oder ließ er sich gar bestimmte Briefe von seinen anderen Daftardars schreiben, die mit den geschäftlichen Vorgängen besser vertraut waren? Letzteres erschien Nil am wahrscheinlichsten, doch irgendwie war er trotzdem nicht überzeugt. Vielmehr hatte er den Eindruck, dass alle Mitarbeiter Bahrams – Vico vielleicht ausgenommen – nur exakt so viel wussten, wie sie wissen mussten. Bahrams Daftardars waren dann wie die Teile eines Uhrwerks: Jeder tat, was von ihm verlangt wurde, ohne eine Vorstellung von der Funktion des Ganzen zu haben. Nur der Seth wusste, wie und zu welchem Zweck die Teile zu einem Ensemble zusammengefügt wurden. Das war auch kein Zufall, sondern beruhte auf der angeborenen Fähigkeit, seine Untergebenen so zu führen, dass jeder in seinem eigenen Bereich effizient arbeitete, während er allein für das Ganze verantwortlich war.
    Auch das ließ Nil an seine eigenen Erfahrungen zurückdenken, und erst jetzt wurde ihm restlos klar, wie unzulänglich er als Leiter seines daftars gewesen war: Die meisten seiner Mitarbeiter hatten über seine Angelegenheiten besser Bescheid gewusst als er selbst, und alle seine Versuche, sich bei ihnen einzuschmeicheln, hatten genau die entgegengesetzte Wirkung gehabt. Diese Erkenntnis führte wiederum zu einer neuen Einschätzung von Bahrams Begabung, die sich schon bald zu einer Art widerwilliger Bewunderung entwickelte. Es ließ sich nicht leugnen, dass einen die Arbeit für den Seth wegen seiner ständigen Sticheleien und seiner vielen Marotten oft an den Rand des Wahnsinns treiben konnte; trotzdem war er zweifellos ein außerordentlich fähiger, weitblickender Geschäftsmann und auf seinem Gebiet womöglich sogar ein Genie.
    Ebenso offensichtlich traf Ah Fatts Aussage zu, dass Bahram ein Mann war, den viele mochten, ja liebten. Seine Angestellten hielten mit beinahe fanatischer Loyalität zu ihm, nicht nur, weil er gut zahlte und gerecht gegen jedermann war, sondern auch, weil er ihnen das Gefühl vermittelte, dass er sich nicht für etwas Höheres oder Besseres hielt als sie. Sie schienen zu wissen, dass er trotz seines Reichtums und seines Hangs zum Luxus im Grunde seines Herzens ein in Armut aufgewachsener Dorfjunge geblieben war. Seine Reizbarkeit fanden sie eher liebenswert als kränkend, und seine gelegentlichen Wutausbrüche und Zurechtweisungen nahmen sie nie persönlich, sondern

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